Erlesene Orte – unleserliche Plätze

LesenWas sehen meine müden Augen? Hat die Monstermeute das Fellmonster heimlich niedergestreckt und das Zepter im Projekt 52 Bücher übernommen? Ist dies eine Falle? Bücherwoche 38 lässt staunen. Es präsentiert sich ein ganz einfaches, klares Thema. Drei Fragen von schlichter Schönheit:

 

 

Mein Lieblingsplatz um ein gutes Buch zu lesen, wohin Bücher mich schon begleitet haben und wohin ich kein Buch mitnehmen würde!

Mein liebster Leseplatz

Der Ruf meiner grenzenloser Anspruchslosigkeit eilt mir ja stets in Siebenmeilenstiefeln voraus. Ich selbst hingegen schlurfe da ganz bedächtig in der mir gegebenen Genügsamkeit hinterher. Dementsprechend verfüge ich über keinen festen Lieblingsplatz beim Lesen. Nicht mehr. Einst besaß auch ich derart sagenumwobenen besagten Leseort. Nimmt man es mit mathematischer Akribie, waren es sogar drei. Niemals gleichzeitig in Nutzung, dazu bin selbst ich, entgegen vieler Legenden & Mythen um meine Person nicht in der Lage, aber in abwechselnder Regelmäßigkeit habe ich sie doch gern aufgesucht. Der allererste Platz befand sich in meinem damaligen Kinderzimmer. Ein alter Schaukelstuhl, der sich nicht nur hervorragend eignete, um darunter tolle Höhlen aus darübergeworfenen Decken zu bauen. Vielmehr erlaubte das schwankende Sitzmöbel eine vielfältige Nutzung als Lieblingslesestuhl, ob nun darauf im gemächlichen oder stürmischen Vor & Zurück – je nach Inhalt – oder darunter gut beschützt in der Deckenhöhle. Doch Kinder werden flügge, Eltern lassen unliebsames Mobiliar gern einfach mal ungefragt verschwinden, so zog auch ich hinaus in die weite Welt, um mir erlese Orte zu erlesen:

Jüdischer Friedhof im Prenzlauer Berg

morbide Romantik

Alter Jüdischer Friedhof Berlin - lediglich eine von vielen spektakulären Kulissen, welche dort geboten werden. - Foto: Wikipedia

Ich bin weder morbid veranlagt noch besonders spirituell. Aber so ein Friedhof strahlt an sich schon eine derart friedliche Ruhe aus. Erwischt man einen Zeitraum des eigenen Daseins, in welchem sich die eigene Psyche auch mit dem Hauch Schwermut, welcher über derartigen Anlagen weht, beruhigt auseinandersetzen kann, so ist ein solcher Gottesacker idealer Rückzugsort in hektischen Gefilden. Der von mir auserkorene Begräbnisplatz allerdings potenziert diese gedankenschwangere wie geschichtsträchtige Atmosphäre noch um ein vielfaches. Der jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee erzählt in aller Stille die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft Berlins seit 1824. Man kann sich also sowohl auf eine beeindruckende Entdeckungsreise durch Zeit & Kultur begeben oder einfach nur komplett verträumt weghören und genießen. In einer mystischen Landschaft erheben sich hier wuchtige Grabmale, kunstvolle Mausoleen & irre Wandgräber unter uralten Bäumen, wilden Farnen und dichten Kletterpflanzen. Neben natürlich zerfallenen oder von urigen Gewächsen überwucherten Säulen, Amphoren sowie sonstigen architektonischen & bildhauerischen Erinnerungsstücken erzählen auch Kriegsspuren, wie Bombeneinschläge, Plünderungen durch Nationalsozialisten & Zeugnisse des neuzeitlichen Vandalismus (wobei oft der antisemitische Hintergrund solcher Taten seitens der Polizei nicht offiziell festgestellt werden konnte, wäre ja auch nur eine allzunaheliegende Mutmaßung, jedoch schlecht für die Statistik…) eindrucksvolle Geschichten über den Wandel der jüdischen Lebensumstände in Berlin.
Ein imposanter Ort der Stille angefüllt mit lauten Erinnerungen. Landschaftlich gesehen jedoch einfach nur ein überwältigend schöner, fast märchenhafter Ort zum Lesen. Wie geschaffen zum Abtauchen in andere Welten.

Mein Lesebaum

Wie jeder anständig romantische Geist hatte natürlich auch ich mir in grauer Vorzeit einen Lesebaum auserkoren. Eine alte Weide, ganz klischeegetreu in der Mitte vom Blitz gespalten und daher ein wunderbarer Kletterbaum, unter dem zu allem Überfluss auch noch Maiglöckchen wuchsen (nicht immer, aber so etwa im Mai, kam dies mitunter vor). Auf jenen Ästen ließ es sich hervorragend lümmeln, lagern & lesen. Eines schönen Tages fiel das prächtige Klettermöbel jedoch einer wildgewordenen Kettensäge zum Opfer. Zum Wohle der Allgemeinheit, es bestand schließlich Einsturzgefahr – so die offizielle Erklärung eines Forstbeauftragten, welcher etwas überfordert von lauter protestierenden wie wehklagenden Kindern schien, welche einen Tag zuvor noch die vorgeschobene Begründung von Amts wegen mit ihren gemeinsamen Turnereien im Geäst ad absurdum führten.

Gegen(d)Lesen

Das Fehlen eines wirklichen Lieblingsplatz zum Lesen hat seine Ursprünge wohl am ehesten darin, dass ich prinzipiell überall lesen kann und es auch tue (was ich bei Beantwortung der dritten Frage sicher grandios widerlegen werde). Somit wäre der eigentliche Lieblingsplatz wohl in meinem Kopf oder der Geschichte selbst. Sobald ich nämlich wirklich in ein gutes Buch abgetaucht bin, ist es mir ziemlich schnuppe, wo ich bin und ob ich nach der Rückkehr in die Welt außerhalb des Buches Rückenschmerzen habe, weil der auserkorene Platz, an dem mich die Story packte, umwarf und fesselte eben nicht der ergonomisch vorteilhafteste war. Lässt es sich nicht vermeiden, lese ich auch im Gehen durch überfüllte Fußgängerzonen. Das macht diese erstaunlicherweise weitaus erträglicher als ohne Buch, zumindest für den Lesenden.
Ansonsten schleppt sich so ein Buch je nach Format ja wunderbar überall hin. Inland wie Ausland. Die einzige Örtlichkeit, bei deren Heimsuchung ich förmlich mit messbarer Regelmäßigkeit ein vernünftiges Buch vergesse, ist: *Gruselmusik der schauerlichsten Art* “das Wartezimmer”! Zu welch grauenerregenden Alternativmaßnahmen dann gegriffen werden muss und was dies für die geistige Verfassung bedeutet, muss hier sicher nicht eingehender erläutert werden.

Unleserlich

Nur wenige Orte eignen sich nicht wirklich zum Lesen. Für mich gehören dazu beispielsweise Autofahrten. Mir wird schlichtweg speiübel, da tritt auch keinerlei Übung oder Trainingseffekt ein. Sporadisch versuche ich es seit einem knappen Vierteljahrhundert immer wieder, doch mit “mäßigem” Erfolg & eher fatalen Folgen (für Bezüge als auch die Nacken potenzieller Vordermenschen).
Lange Bus- & Bahnfahrten entbehren zwar diesem Drang des spontanen Vomierens, dafür bieten sie aber reichlich Anlass für andere spannende Ablenkungen & Tätigkeiten: Leute beobachten, Leute belauschen, Landschaft beobachten, Landschaft nicht belauschen, sinnieren und letztendlich erschöpft von all diesen Sinneseindrücken einschlafen (etwa 5 Minuten nach Verlassen des Abfahrtsortes). Eine Fahrt mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln hingegen, insbesondere U-Bahn (keine Gegend!) bietet ziemlich viel Potenzial zur entspannten Lektüre. Das ist allerdings stark abhängig von Fahrzeit & Linie. Im Berufsverkehr prima, da sind viele eh eher mies gelaunt oder müde. Feierabendverkehr – das Spannungspotenzial der akustisch-visuellen Umgebung (auch Mitmenschen genannt) nimmt zu. Nächtlicher Partyverkehr: Vergiss es! Außer eventuell als Fluchtmöglichkeit vor ungewollt aufgezwungenen Gesprächen.
Fahrzeuge besitzen scheinbar allgemein eine kniffelige Beziehung zu Büchern. Wovon ich hier in aller Dringlichkeit abraten möchte, ist: Lesen beim Fahrradfahren! Neben Schlafen beim Radfahren ist dies so ziemlich eine der blödesten Ideen, auf die man kommen kann. Behaupten zumindest mein Meniskus & das Kreuzband.
Auch die Badewanne ist ein Ort, den ich als vollkommen ungeeignet für eine genussvolle Lektüre empfinde. Nasse Seiten mindern nicht nur mein persönliches Gefühl für Gemütlichkeit enorm, sondern auch den Spaß am Lese- & Badeerlebnis.
Ein Ort fiel mir noch ein, wo ich es noch nicht probierte, jedoch könnte ich mir vorstellen, dass auch dieser ungeeignet wäre. Im Kino. Wenn der Film öde ist, man das aber eher als einziger unter seinen Begleitungen so empfindet. Ist sicherlich hinderlich dunkel. Gehen Menschen eigentlich auch allein ins Kino? – Eine gelungene Abschlussfrage, welche jegliche Berührungspunkte mit der eigentlichen Thematik vermissen lässt. Ein wohltuender Ausgleich für einen außergewöhnlich stringenten Beitrag zur Bücherwoche 38.

6 Responses to 'Erlesene Orte – unleserliche Plätze'

  1. Einfaches, klares Thema, welches als erstes in meiner Tabelle eine doppelte Zeilenbreite verlangt und bekommt…
    Im Auto und auch im Bus kann ich leider auch überhaupt nicht lesen. Selbst, wenn ich als kartenlesender Beifahrer gefordert war, kam ich schnell an meine Grenzen. Zum Glück gibt es nun Navis!
    Wartezimmer ohne Buch, oje-oje, für solche Fälle müsste es einen Expressbücherbringdienst geben. Ob das eine Geschäftsidee wäre? “Sie sitzen im Wartezimmer und starren verzweifelt auf Klatsch- und Tratschzeitschriften. Jetzt ein gutes Buch, das wäre die Rettung! Rufen Sie an und wir bringen Ihnen … usw. usf.”
    Auch in solchen Fällen ist ein Schlauphone Gold wert, falls man wirklich mal ein Buch vergisst… Wenn ich bedenke, wie ich mich zu Anfang gegen ein Smartphone gesperrt habe (“Internet auf so einen Minimonitor, wozu soll das gut sein?”). Aber Bücher lese ich damit immer noch nicht, auch wenn das mit bestimmten Apps auch möglich wäre.

    • DillEmma says:

      Das Würfelthema verlangt keine doppelte Zeilenbreite? Hast du dir das kuriose Regelwerk denn einfach gemerkt?

      Aber diese Expressbücherbringdienst-Idee ist grandios – die absolute Marktlücke. Solch ein Notfallservice wäre ja durchaus nicht nur auf Arztpraxen begrenzt möglich :D

      • Das Würfelthema habe ich gnadenlos geschrumpft… Aber bei diesem Triplemotto ist mir kein kurzer Begriff eingefallen, der kurz genug für eine Zeile wäre. Nun habe ich einfach die Spalte breiter gezogen. Wollte ich eigentlich nicht, ist vielleicht blöd für Leser mit kleinem Monitor, weil dann die anderen Spalten evtl. aus dem Blickfeld geraten, zumindest die mit der Blog-URL. Andererseits: Egal. :-) So sieht es besser aus.

  2. Ralph says:

    **Zitat: Aber so ein Friedhof strahlt an sich schon eine derart friedliche Ruhe aus. Zitat Ende**
    Ach? Wer hätte das erwartet; ruhige Mieter da *zwinker* Und mit “Gottesacker” als Bezeichnung wäre ich vorsichtig, Egal wie spirituös Du nun bist. Denn in diesem Punkt versteht der Herr Mephistopheles (nebenbei: ein guter Freund von mir) wahrlich keinen Spaß … **Zitat: Wie geschaffen zum Abtauchen in andere Welten. Zitat Ende** Das stimmt nun wieder total!

    Eventuell wurde der Baum ja wieder das, was er für Dich war: Ein Klettermöbel. Eine Art Reinkarnation, Du verstehst *dreimal auf Holz geklopft*

    Und ja: Fesselbücher sind so eine Sache …

    Obwohl ich so gut wie nie ins Kino gehe (mein letzter Besuch war bei der “Herr der Ringe”, davor sah ich musste ich “Vom Winde verweht” ansehen), empfehle ich die Mitnahme einer Taschenlampe. Mit der kann Mann nicht nur seiner Sitznachbarin unter den Rock leuchten, sondern frau auch lesen …
    LG,
    Ralph

    • DillEmma says:

      Oh ein Fehdehandschuh? :P

      Moment, Moment, das scheint mir so mitdenklastig. Hier also ein chronologisches Plädoyer:

      Friedliche Ruhe auf friedlichen Friedhöfen. Etymologisch ist diese Dopplung durchaus akzeptabel, da das mittelhochdeutsche “vrithof”, nicht den Frieden per se, sondern einen ringsum die Kirche gelegenen eingefriedigten Platz bezeichnet. Auf die Nachbarschaft bezogen, kann ich als Grusel-Lusche lediglich einwerfen: “Ruhige Nachbarn” unterschreib ich nicht. Gewiss NIEMALS! Typen, welche zu gewissen Zeiten in meiner Vorstellungswelt lauten Wahnsinn hervorrufen können, sind nur scheinbar ruhige Gesellen.
      Allerdings habe ich mit “Gottesacker” auch gehadert, die antiquierte Bezeichnung fand ich in ihrer bildlichen Erscheinungsform jedoch wesentlich witziger (so ein pflügender Gott, der sich schwitzend seine Kartoffeln zusammenklaubt hat schon was für sich) als andere Synonyme. “Leichenhof” zum Beispiel, zuviel Referenz auf die Schattenseite der trügerischen Nachbarschaft.
      Sollte der Baum tatsächlich zu einem Klettermöbel verwurstet worden sein, so hoffe ich (und klopfe), dass es ein freizugängliches, also nicht in der Wohnung verwöhnten Bengels verkommendes, und insbesondere kein Folterinstrument für sport”begeisterte” Schulkinder geworden ist. :)

      Wie leuchtet man unbemerkt Sitznachbarn unter Röcke? Oder ist bei solchen wahrhaft belustigenden Aktionen der Heimlichkeitsgrad doch eher zweitrangig? :D

  3. Ralph says:

    Ein Fehdenhandschuh? Von mir? Niemals nicht *schwör* Ich werfe doch nur Federboas Federhandschuhe leichte Sachen :mrgreen: DEINE Definition von Gottesacker ist nicht nur antiquiert, sondern auch noch völlig haltlos. Denn auf diesem Acker Gottes bestellt ER (oder SIE) keine Kartoffeln, sondern lediglich Seelen. Und die ganz sicher ohne Soße ;-) Und nochmals nein: SitznachbaRN würde ich niemals unter den Rock leuchten. Weder heimlich noch unheimlich. Beim Mephi, ich habe bei noch keiner Frau auf dieser Welt in so kurzer Zeit so oft nein gesagt :mrgreen:

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