1000 x geschrieben – 1000 x nichts geblieben

Projekt 52 Bücher Ich hinke. Ach, “hinken” ist gar kein Ausdruck, wäre ich ein Pferd, hätten die Menschen sicher schon längst Lasagne aus mir gemacht. Doch nachdem Fürstin Flausch so epochal vom Winterschläfer Nummer eins dem Bären wachgeküsst wurde oder sich zumindest in autogener Selbsterweckung probiert, möchte ich ihr keineswegs nachstehen. Daher widmen wir uns einer wunderschönen Zahl, einem noch schöneren Thema von dem schönsten aller Blogger (Irgendwas stimmt hier nicht. Soeben überstürzen sich hier die Ereignisse: Während ich ein hämisches Lachen zurückhalte, gleite ich auf einer schleimigen Masse fort von meiner geliebten Tastatur):

Ein Buch, dessen Titel wirklich nichts, aber auch gar nichts, mit dem Inhalt (der Geschichte) zu tun hat.

Da fällt mir spontan Transit von Anna Seghers ein.
Seghers TransitNur weil es auf dem Cover und im Buch selbst am Wort Transit, an Transitsanträgen, an Anträgen für Visa und Visa de sortie nur so wimmelt, ging es doch überhaupt nicht um das Transit selbst. Der Inhalt hatte wirklich rein gar nichts, also überhaupt nichts mit dem Titel zu tun!

Die politischen Flüchtlinge, welche in Seghers Werk vor den näherrückenden Nazis im Marseille der 40er Jahre von Botschaft zu Botschaft strömen, könnten genauso gut Essensmarken für eine Portion Obstsalat beantragen wollen oder einen Seifenblasen-Coupon. Die Sinnlosigkeit des Unterfangens wäre dieselbe. Womit ich keineswegs die Fluchtgedanken an sich oder gar die Notwendigkeit derselben in Frage stellen möchte. Einzig das bürokratische Gebilde des Wahnsinns, welches darüber schwebt, über den Menschenleben, lässt das Transit trotz seiner zahlreichen Erwähnung im Werk so sehr zu einer unwirklichen Absurdität werden. Unterstützt wird dieses Gefühl noch durch die Haltung des Erzählers, welcher selbst während großen Strecken der Handlung überhaupt nicht flüchten möchte. Der Protagonist benötigt demnach nicht einmal ein Transit – höchstens fadenscheinige Bemühungen darum, um seinen “vorübergehenden” Aufenthalt in Marseille zu rechtfertigen. Dennoch beantragt er ein solches. Im Laufe der Geschichte verfällt jener Erzähler zwischenzeitlich sogar dem vorherrschenden Transit- & Reisefieber. Doch wirkt es vielmehr wie eine Art Virusinfekt oder auch eine Trotzreaktion auf eine zum Scheitern verurteilte Liebe.
Natürlich hatte schon damals jeder Flüchtling ganz unterschiedliche Motive zur Ausreise, welche Seghers auch wunderbar aufgreift. Sie flattern durch die Straßen von Marseille, vor allem an Tagen des Alkoholausschanks, überlagern die eigentliche Transitsuche und schweben ungreifbar und dennoch viel fassbarer als die Reisepapiere selbst über allem:
Sei es die Verfolgung durch die Nazis, deren vorrückenden Truppen damals im halbbesetzten Vichy-Frankreich eine stetig näher rückende Bedrohung darstellen. Seien es private Gründe zur Flucht, einer Flucht vor den eigenen Gefühlen, der eigenen Geschichte, welche noch viel mehr im Vordergrund steht, als der zynischer Weise fast schon willkommene Anlass zur Flucht, jene faschistische Schreckensherrschaft. Sei es auch nur der ungeklärte Aufenthaltsstatus, denn einfach in Marseille zu bleiben, ist ebenso behördlich unerwünscht, wie anderswo hinzukommen. Überall muss ein Nachweis erbracht werden, dass der Flüchtling stets bereit ist gleich weiterzureisen zu einem unwahrscheinlichen Endziel, an dem die Menschen bereit zur endgültigen Aufnahme wären.
Angesichts des drohenden Todes hat diese doch nunmehr schon fast ein Jahrhundert zurückliegende Handlung nichts an Aktualität eingebüßt. Noch immer bringen diverse Diktaturen oder gar Scheindemokratien Unmengen politischer Verfolgter hervor, welche sich nach ihrer Flucht aus der Heimat einer halsbrecherischen Bürokratie offenbaren müssen. Der sich dann auftuende Abgrund zwischen Menschlichkeit, Solidarität und wirtschaftlicher Interessen im potenziellen Exil hat höchstens seinen geografischen Standpunkt verschoben. Immer noch stehen Menschen hilflos wie hoffnungsvoll vor undurchsichtigen Einreiseabkommen und tödlichen Aufnahmebeschränkungen, von denen es zwecks Durchreise über sichere jedoch überfüllte Zweitstaaten in aufnahmeunwillige Drittstaaten nur so wimmelt. Das Einzelschicksal wird politischen und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet, das Bangen realer Personen durch die Bürokratie erfolgreich anonymisiert und somit immerhin für die Protagonisten auf der ablehnenden Seite ein wenig erträglicher gestaltet. Es wird de facto nicht dazu beigetragen Menschenleben zu zerstören, sondern sich lediglich an Gesetze eines offiziell nicht Menschen verachtenden Systems gehalten.

5 Responses to '1000 x geschrieben – 1000 x nichts geblieben'

  1. Fellmonsterchen says:

    Deinen letzten Absatz kann ich nur unterschreiben. Ich finde es immer wieder traurig, wenn sich Menschen so salopp über Asylbewerber äußern, nach dem Motto “was wollen die hier” oder “sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge”. Was für ein Schicksal dahinterstehen muss, wenn man seine Heimat, seine Verwandtschaft zurücklässt, um in eine neue, oft völlig fremde Kultur zu flüchten, das ist immer mal wieder eine Diskussion wert, denn so was nimmt doch keiner leichten Herzens auf sich… Klar führt es zu Problemen, wenn man viele Menschen (die ja i. d. R. nicht arbeiten dürfen, so viel zu Gesabbel von faulen Flüchtlingen) auf engem Raum einquartiert, da sind Schwierigkeiten vorprogrammiert, aber der abwertende Ton, der in solchen Diskussionen gern angeschlagen wird, ist traurig.
    Das Buch ist bestimmt wichtig, wäre mir aber momentan wohl zu deprimierend…

    • DillEmma says:

      Es ist einfach schade, dass manch schlichtes Gemüt es nicht einmal für notwendig hält, sich auch nur für eine Sekunde in anderer Leute Beweggründe einzufühlen. Wozu auch den priviligierten Kokon verlassen, wo du Außenwelt doch so hart und kalt ist?
      Aber deprimierend empfand ich das Buch glücklicherweise dennoch nicht, da der Protagonist eine erstaunliche Gelassenheit an den Tag legt ….vielleicht ist es tatsächlich so, wie mir einst ein Neuro-irgendwas-Forscherich anvertraute: “Normale” (was immer das sein soll) Gehirne können den Zustand größtmöglicher Trauer, Angst, Sorge oder Panik nicht länger als drei Tage aufrechterhalten …irgendwas mit Erschöpfung irgendwelcher Transmitter – allerdings haben die mir auch nie in den Kopf geschaut.
      Ich wünsch dir aber generell mal eben ein bisschen dickeres Fell, scheint, als ob du es derzeit irgendwie gebrauchen könntest… und Frühling – ganz viel Frühling ;)

  2. Ralph says:

    Sollte ich je eine Armee rekrutieren müssen, um unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zu verteidigen, wärst Du erste Wahl als Stoßtruppführerin! Und um gleich das Misstrauen gegen den Begriff “freiheitlich demokratische Grundordnung” zu zerstreuen: Die FDG an sich ist großartig; lediglich deren Interpretation durch die Legislative und die daraus resultierende, mangelhafte Verteidigung der Exekutive und eine sehr rechtslastige Judikative machen die FDG angreifbar – und das führte einst zu den Auswüchsen durch die RAF. Die Nazis sind wieder ein noch anderes Kapitel – aber nun die wichtigste Frage: Warum zum Mephistopheles verlinkst Du mich – ohne Ironiebalken – als “schönsten aller Blogger?” Schön wirke ich nämlich nur, wenn lediglich meine (Kopf-)Haarspitzen unter der Bettdecke hervorlugen – sobald ich den Kopf hinterherschiebe ist die Illusion perdu :-) Und irgendwie war/bin ich sehr stolz darauf, als optisch hässlicher Zeitgenosse zu erreichen, was ich erreichen möchte! Natürlich strahle ich eine tiefe innere Schönheit aus :mrgreen:
    LG und schön, wieder mehr von Dir zu lesen …

    • DillEmma says:

      Diese grundlegend positive Sicht auf jene demokratische Grundordnung ist ja fast schon beneidenswert: “Da schau sie dir an, die tragenden Säulen sind etwas marode, windschief, ja teilweise einsturzgefährdet und ohne jegliches Fundament gebaut. Moos und Luftwurzeln schimmern in natürlicher Schönheit aus den Rissen, welche sie durch ihren Wuchs beinahe zum Bersten bringen, aber ist es nicht wunderschön, wie das Dach dort in der apokalyptischen Abendsonne schimmert, flatternd im Sturm, jeden Moment dem Abflug so nah?” :mrgreen:

      Fragen nach einem “Warum” sind grundsätzlich mit einem “Weil mir so war und ich es in dem Augenblick aus unerfindlichen Gründen womöglich brüllkomisch fand” zu beantworten – aber der Ironie-Balken, mein lieber Dunkelschlumpf, war eindeutig klein niedlich und versteckt der wuchtige Absatz danach :D

      Ebenfalls schön von dir zu lesen – dit is ja selten mittlerweile, also nicht nur in heimischen Gefilden ….muss ich wohl doch mal auf die Walz gehen….

  3. Ralph says:

    “Da schau sie dir an, die tragenden Säulen sind etwas marode, windschief, ja teilweise einsturzgefährdet und ohne jegliches Fundament gebaut. Moos und Luftwurzeln schimmern in natürlicher Schönheit aus den Rissen, welche sie durch ihren Wuchs beinahe zum Bersten bringen, aber ist es nicht wunderschön, wie das Dach dort in der apokalyptischen Abendsonne schimmert, flatternd im Sturm, jeden Moment dem Abflug so nah?”

    Wie wunderbar Du damit das Fundament unseres ganzen Daseins beschrieben hast – nebenbei: Diese Welt ist lediglich aus Kohlestoffatomen gebaut und gleitet, wenn auch nicht auf dem Rücken einer Schildkröte, so doch durch ein so lange unendliches Weltall, bis dieses implodiert … wenn die kleine Erde nicht vorher in ein schwarzes Loch gefallen ist.

    Wie kann da die menschengemachte FDG allein so stabil sein, um ein ganzes Volk zu tragen? Da braucht es schon HelferInnen – und eine gute Stoßtruppführerin ;-)

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