Erotisches Leseerlebnis

Projekt 52 BücherDie Masse skandiert: “Aufholjagd! Aufholjagd!” – So fügen wir uns der euphorischen Menge und zerren das nächste Thema aus dem bis zum Bersten angeschwollenen Topf unbearbeiteter 52 Bücher-Beiträge:

Ein Buch, wodurch du etwas gelernt hast.

Mein aus Büchern erworbenes Wissen beschränkt sich nicht lediglich auf Kenntnisse um das Fähnlein Fieselschweif. Das mag den einen oder anderen nun sicherlich in Erstaunen versetzen, ja, womöglich gar ganze Realitäten erschüttern, doch ich bin ein leidenschaftlicher Leser von Sachbüchern. Um die soll es im Folgenden aber überhaupt nicht gehen. Auch nicht um die vulgärste Trivialliteratur, welcher ich, so sie mir denn in die Hände fällt, ebenfalls Wissenswertes zum Bereichern meiner persönliche Schatzkammer entsaugen kann. Nein! Das grandiose Spektakel, bei welchem ich kürzlich etwas gelernt habe, ist nicht nur ein Buch, es sind sogar gleich mehrere. Hinzu kommt formidabler Weise, dass die Literatur an sich dabei ausnahmsweise sogar mal (zumindest teilweise) in den Hintergrund tritt.
Womöglich kennt es der, die, das ein_e oder andere auch schon. Ich jedenfalls stieß erst kürzlich darauf und war fasziniert, begeistert und sowieso. Es handelt sich um ein Projekt namens Hysterical Literature, was sich gewissermaßen mit der Abspaltung zwischen Körper und Geist beschäftigt.
Nachdem ich mich nun gefragt habe, ob ich die Sessions einfach für sich sprechen und potentielle Voyeure schlicht unvorbereitet hineinstolpern lassen sollte, kam ich zu dem Entschluss: Ich mache beides! Wer sich also von diesem, in so vieler Hinsicht wundervollem bis verstörenden Projekt überraschen lassen mag, klickt entweder einfach auf die Seite selbst oder direkt zu der von mir als herausragendst empfundenen Session:

Wer allerdings jetzt weiterliest, ohne geschaut zu haben, wird nun gespoilert:

Für das Kunstprojekt Hysterical Literature bat Clayton Cubitt einige Frauen, eine Passage aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. Unter dem Tisch verbirgt sich dabei der “Geheimnisvolle Fremde” ausgestattet mit vibririerender Gerätschaft sowie dem Ansinnen dem Körper der Lesenden Zerstreuung zu verschaffen und ihren konzentrierten Geist auf Abwege zu locken. Vor dem Tisch muss auch mindestens ein Kameramensch (womöglich Cubitt selbst?) herumspringen, was der insgesamt schon abstrusen Situation noch eine weitere potenziell hemmende Komponente hinzufügen könnte. Die Leserinnen können dabei jederzeit die Sitzung unterbrechen, indem sie ihren Namen und den Titel des vorgelesenen Buches abschließend verkünden.
Das Projekt wird als eine Art feministische Installation angekündigt, welche die Dualität zwischen Körper und Geist erforschen und sichtbar machen soll. Klingt trockener als es ist. Ich persönlich empfinde den “Kampf” der Probandinnen um volle Konzentration aufs Buch, Seriosität, Körperkontrolle und das ziemlich häufige Unterliegen in diesem Zwiespalt, das sukzessive Loslassen und anschließende (teilweise bereits begleitende) Reflektieren dessen, was frau da eigentlich gerade macht, als extrem spannend, witzig oder gar absurd erotisch. Da bekommt doch die Vorstellung abends noch gemeinsam ein Buch zu lesen plötzlich eine völlig neue spannende Bedeutungskomponente. Grandios sind dabei auch die Veränderung in den Gesichtern. In mehreren der Sessions hatte ich den Eindruck, dass zu Beginn und zu Ende der jeweiligen Sitzung zwei völlig andere Frauen dasitzen, beziehungsweise ein und dieselbe, welche gerade (fast ausschließlich in Gesicht und Stimme) so viel intimes ihrer eigenen Persönlichkeit preisgegeben hat, dass der eigentliche Mensch für den Betrachter in gewisser Weise sichtbarer geworden ist. Das häufige Lachen am Ende dieser Sessions, finde ich übrigens auch wahnsinnig faszinierend. Ist es Befreiung? Scham, nachdem der Geist den Körper wieder zurückdrängt?Ein allgemeines unterschiedlichster Gefühle, die das ganze (ja nicht unbedingt alltägliche) Brimborium so in den Probandinnen ausgelöst hat?

3 Responses to 'Erotisches Leseerlebnis'

  1. Ralph says:

    Faszinierend die Passage “the peace of joy” und der folgende Abschnitt the “the hand of god is the hand of my own” – für mich ein klarer Beweis meiner These, dass Humor und Erotik gelegentlich nicht nur Hand in Hand gehen ;-) Und “god” sich eben manchmal auch unter Tischen verbergen kann! Und ist Lachen nicht das Gefühl, das dem Orgasmus am nächsten kommt? Was wäre also besser geeignet, die eigene Lust (zumindest veruchsweise) zu kaschieren?

    Cubitt wandelt mit diesem “Experiment” auf Platons Spuren – doch ich frage mich, ob die Erfahrungen von Alexandra David Neel (z. B. bei Wanderungen durch den Himalaya in ungeeigneter Kleidung), die Kälte durch reine Anstrengung des Geistes nicht zu empfinden, die These von der Dualität nun unterstützt oder widerlegt?

    Für mich persönlich gilt ja ohnehin der Gedanke des Herrn Geheimrates: die Kraft ist schwach, allein die Lust ist groß. Danke, Goethe. Und danke, Alicia!

    • DillEmma says:

      ist das verruchsweise ein gewollter oder mehr freudscher Verschreiber? Die Nähe von Orgasmus und dem kaschierenden Lachen unterschreib ich – finde ich irgendwie ein sympathisches Schmunzelelement bei den Videos-
      Inwiefern auf Platons Spuren? Spontan findet sich nur dieses Höhlengleichnis im Gedächtnis – dit passt aber nich …glaub ich. Aber ich meine, wenn der Geist ber den Körper siegen kann (im Hamalaya) und der Körper ber den Geist (zu Tisch) sind das halt zwei Seiten der Medaille von dualen Kräfteverhältnissen …das einzige was damit irgendwie minimal belegt zu sein scheint, das Lust stärker ist als Kälteschmerz (wobei mein Körper gerade beim bloßen Gedanken an eisige Bergspitzen widerspricht).

      • Ralph says:

        Nun, schon Platon erforschte die Dualität von Körper und Geist; und bei “veruchsweise” fehlte mir nur ein “s”. Freud war da außen vor ;-)

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