Masturbation – Ferrari des authentischen Sex

LesenWie schon in dem wohl am knackig übertitelsten Artikel, der kurzen Lebensgeschichte jenes Blogs angeklungen, dreht sich in der 24 Bücherwoche alles um echten Sex. Also im sprichwörtlichen Sinne, denn das Thema lautet:

„Die glaubwürdigste Sex-Szene“

Das Projekt stellt also nicht nur wöchentlich vor neue spannende Herausforderungen, sondern verleitet auch zur Reflektion des eigenen Leseverhaltens einer Art Selbsterfahrungstrip. So durfte ich diese Woche feststellen, dass in der von mir bevorzugten Literatur scheinbar überaus wenig den fleischlichen Genüssen gefrönt wird oder sich das Thema generell irgendwie meinem Erinnerungsvermögen entzieht. Dabei ist das Thema an sich doch ein wahrer Quell an Symbolismus und Metaphorik zur Gefühlsvermittlung. Der authentische Liebesakt gar, scheint zunächst beim Nachforschen in diese Richtung literarisch kaum zu fassen. Nur wenige Lektüre zu dieser hormonstrotzenden und emotionsgeladenen Thematik schießt mir dabei durch den Kopf.

intimes Tagebuch

Das intime Tagebuch der Mu Zimei

Eine – Nein! – DIE Internetbloggerin aus China, welche mit ihren privaten Einträgen zu ihrem promiskuitiven Sexualleben gar zum Staatsfeind avancierte. Das authentische Element dieser Aufzeichnung liegt wohl eher in ihrer Ansicht sich in einem totalitären System der sexuellen Freheit zu bedienen, sich wild durch alle Betten vögeln zu können. Die beschriebenen Sexszenen selbst empfand ich allerdings mehr kalt distanziert – fast schon eher öde, gehetzt und irgendwie auch traurig gefühlslos. Diese Komponente ist sicherlich auch ein Teil von authentischem Sex, vielleicht sogar ein vielfach real gelebter. Natürlich ist es auch ganz nett, dass den Klischees von rosabebrilltem Blümchensex oder dem wild ekstatischen Leidenschaften, unter denen ganze Hochäuser mitbeben und ins Schwitzen geraten, etwas entgegengesetzt wird. Allerdings ist die Entfernung zum eigenen Selbst, welche Mu Zimei ja auch mit Selbstmordabsichten liebäugeln lässt, eine Abgestumpftheit, welche zwar durchaus gelebte gesellschaftliche Realität sein wird, die Distanz zum Ich empfinde ich persönlich jedoch eben als nicht mehr ursprünglich und damit auch als irreale Abspaltung. Die trocken beschriebenen Sexualpraktiken oder die “Gefühle” dabei wirken also fast schon erschreckend pathologisch, wenn auch zeitgemäß.

Geisteskrankheiten und die sexuelle Annäherung ans Ego

Wo wir grad beim Thema sind, komme ich mal zum eigentlich passenden und dem Sextagebuch der Mu Zimei eher diametral entgegenstehenden Buch, welches sich mit der Rückkehr zum echten Leben, der inneren Freiheit und dem Ausleben wahrer Gefühle, Wünsche & Vorstellungen befasst. Als Gegenpart überaus passend. Großartiger Weise existiert hier auch eine Sex-Szene, welche wie die Faust aufs Auge auf die vorgegebene Thematik einprasselt.

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Veronika beschließt zu sterben

Das Werk wird wahrscheinlich vielen ein Begriff sein, die meisten könnten es gar gelesen, zumindest aber auch die kürzlich erschienene Verfilmung betrachtet haben. Dennoch hier ein kurzer Storyabriss: Junge Frau findet das Leben langweilig. Die vorgefertigten Bahnen beängstigend öde und beschließt daher, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Leider wird sie “rechtzeitig” gefunden und wacht in einer psychiatrischen Anstalt auf. Der Arzt verkündet ihr, dass sie nur noch wenige Tage zu Leben hätte und sie entdeckt unter all den Verrückten eine neue Perspektive und mit dieser die Lust auf das Leben, ein echtes Leben ohne Fremdbestimmung, nahe bei sich und an den eigenen Gefühlen.

Sexualtrieb als Heilmittel

Einer der ersten Schritte auf dem Weg sich die Autenthizität dessen zurückzunehmen, was man allgemeinhin so Leben nennt, ist bei Paulo Coelho die sexuelle Erfüllung. Das wirkliche Spüren des eigenen Körpers, der eigenen Lust ohne Grenzen, sozial anerzogene Hemmungen oder Kontrolle. Freud wäre glatt ein wenig stolz. Veronika beschließt auf Anraten “erfahrener Verrückter” einen wortwörtlichen Selbsterfahrungstrip mittels ausgelassener Masturbation mit Publikum zu wagen. Die Stelle, welche ich hierzu zitieren werde, artet in ihrer Länge eventuell etwas aus, allerdings möchte ich sie nicht kürzen, da das authentische Element am Liebesakt sich eben genau in dieser ausgedehnten Darstellung, dem Zeitlassen liegt. Zudem zeigt der Abschnitt einfach die vielfältigen Komponenten des Sexes, Rück- wie Entkopplung von Körper und Geist, welche ebenfalls das Echte daran verstärken, von der Albernheit bishin zur kindlichen Hilflosigkeit innerhalb des Sexualaktes an sich, den befremdlich peinlichen Gedanken drumherum, dem langsamen Loslassen und dem Abschweifen ins Tabuisierte, aber auch Triviale:

Veronika war verwirrt, doch dann war ihr wieder klar, daß sie nichts zu verlieren hatte. Sie war tot, warum sollte sie weiter Ängste und Vorurteile hegen, mit denen ihr Leben immer eingegrenzt worden war? Sie zog die Bluse aus , die Hose, den BH, den Slip und stand nackt vor ihm.

Eduard lachte. Sie wußte nicht worüber, stellte einfach fest, daß er gelacht hatte. Vorsichtig nahm sie seine Hand und legte sie  sie auf ihr Geschlecht. Die Hand blieb dort reglos liegen. Veronika überlegte es sich anders und schob die Hand wieder weg.

Etwas erregte sie viel mehr, als wenn sie körperlichen Kontakt mit dem Mann gehabt hätte. Die Tatsache, daß sie machen konnte, was sie wollte, daß es keine Grenzen gab; außer der Frau, die jeden Moment hereinkommen konnte, war um diese Zeit wahrscheinlich niemand mehr wach.

Ihr Blus floß schneller, und das Frösteln, das sie empfunden hatte, als sie sich auszog, verschwand wieder. Die beiden standen voreinander, sie war nackt, er vollständig angezogen. Veronika ließ die Hand herunter zu ihrem Geschlecht gleiten und begann sich selbst zu befriedigen. Sie hatte das schon früher getan, allein oder mit einigen Partnern, doch nie in einer Situation wie dieser, wo der Mann nicht das geringste Interesse en dem zeigte, was gerade geschah.

Und das war erregend. Sehr erregend. breitbeinig stehend berührte Veronika ihr Geschlecht, ihre Brüste, ihr Haar und gab sich hin, wie sie sich nie zuvor hingegeben hatte, weniger um zu sehen, ob sie diesen Jungen aus seiner fernen Welt herausholen konnte, sondern weil sie so etwas noch nie erlebt hatte.

Sie begann zu reden, undenkbare Dinge zu sagen, die ihre Eltern, ihre Freunde, ihre Vorfahren für den größten Schmutz auf Erden gehalten hätten. Der erste Orgasmus kam, und sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Eduard blickte sie an. In seinen Augen war jetzt ein anderes Leuchten, als verstünde er etwas, auch wenn er möglicherweise nur die Energie, den Schweiß, den geruch, die Hitze wahrnahm, die ihr Körper ausstrahlte. Veronika war noch nicht befriedigt. Sie kniete nieder und begann sich wieder selbst zu befriedigen.

Sie wollte sterben, während sie der bis heute verbotenen Lust frönte: Sie flehte den Mann an, sie zu berühren, sie zu unterwerfen, sie zu allem zu benutzen, wozu er Lust hatte. Wollte, daß auch Zedka da wäre, weil eine Frau besser als jeder Mann weiß, wie sie den Körper einer anderen Frau berühren mußte, da sie alle Geheimnisse kannte.

Sie kniete vor Eduard nieder. Ihr war, als würde er sie besitzen und berühren, und sie gebrauchte obszöne Worte, um zu beschreiben, was sie von ihm wollte. Ein neuer Orgasmus kam, stärker als der letzte, als würde alles um sie herum gleich explodieren. Sie erinnerte sich an den Herzanfall, den sie am Morgen gehabt hatte, doch das war jetzt unwichtig, sie würde voller Lust sterben, explodieren. Sie fühlte sich versucht, Eduards Geschlecht zu packen, das sich direkt vor ihrem Gesicht befand, doch sie wollte nicht Gefahr laufen, diesen Augenblick zu zerstören. Sie ging weit, viel weiter, genau wie Mari gesagt hatte.

Sie stellte sich vor, Königin und Sklavin zu sein, Beherrscherin und Beherrschte. In ihrer Phanthasie machte sie Liebe mit Weißen, Schwarzen, Gelben, Homosexuellen, Bettlern. Sie gehörte allen und alle konnten alles mit ihr machen. Sie hatte nacheinander zwei, drei Orgasmen. Sie phantasierte sich, was sie sich nie zuvor vorgestellt hatte – und gab sich dem Gemeinsten und Reinsten hin, das es gab. Am Ende konnte sie sich nicht mehr beherrschen und schrie laut, vor Lust, vor Schmerz, wegen der aufeinanderfolgenden Orgasmen, wegen der vielen Männer und Frauen, die ihren Körper besessen hatten, indem sie sich ihres Geistes bemächtigten.

Insgesamt rutscht der Text immer wieder ab in die Banalitäten von Beschreibungen, die sexueller Lust nunmal eigen zu sein scheinen. Insgesamt ist die Reflektion dessen aber irgendwie gelungen und der Aufbau, der in gewisser Weise einer Art Teufelsaustreibung der gesellschaftlichen Normen und des wohlgesitteten Anstands gleicht, erscheint mir zumindest weitestgehend realistisch umgesetzt zu sein.

2 Responses to 'Masturbation – Ferrari des authentischen Sex'

  1. Roger says:

    Ich verweigere mich nun einer tieferen Aussage, was sich aus deinen Zeilen auf deine eigene Empfindungswelt ableiten lässt.

    Ich muss sagen, dass dieser Textabschnitt tatsächlich beeindruckend ist, weil er, obgleich lustvoll, auch sehr distanziert und “fremd” wirkt. Stilistisch greift er Elemente der erotischen Literatur auf, ohne selbst eine zu sein. Interessant. Von Coelho kenne ich bislang nur “Der Alchimist”, den zudem als (wohl ungekürzte) Hörbuchfassung.

    Die Frage ist aber eher – will man als Leser/in erotischer Literatur authentischen Sex erleben? Oder will man das lesen, was man nicht hat, was man vielleicht haben will, ausprobieren will, es aber nie selbst wagt?

    Anders kann ich mir den Erfolg des doch recht seichten Shades of Grey nicht erklären. Aber es testen eh viel zu wenig Menschen aus, was sie wirklich mögen…

    • DillEmma says:

      Also ob Sex, Tod oder Frustfressen, mir persönlich ist es oftmals ein bedürfnis, dass ich mich mit der Literatur identifizieren kann. Da bin ich schwer egozentrisch. Überzogener Realismus, der einfach nur noch wie hingemalt wirkt, ärgert mich einfach nur. Ich hab nichts gegen eine Verzerrung der Wirklichkeit, gegen Überspitzung oder Verfremdung für Satire oder Fantasie, darin steckt jedoch immer ein Stück Echtheit, welche teilweise sogar noch mehr zur Geltung kommt, je weiter sie von der eigentlichen, trockenen Realität entrückt wird.
      Bei den Grauen Schatten kann ich (leider?) nicht mitreden, so etwas zieht gewohnheitsgemäß an mir vorüber. Ich fiebere hingegen dem bahnbrechenden Roman “50 Shades of Caipi” entgegen, geschrieben von der großartigen Lady Limette.

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