Gut getürkt ist halb gewonnen

Roman um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts

Lesen nach Alphabet Den Auftakt zum späten Einstieg in die ABC-Challenge macht ein Genre, welches im ursprünglichen Sinne nicht unbedingt zu meinen Favoriten zählt:
Der Historienroman.

Doch das folgende Werk konnte sogar trotz meiner persönlichen Vorbehalte gegenüber Klatsch & Tratsch um Adelsfamilien sowie Höfische Kultur begeistern.

Robert Löhr: Der Schachautomat

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wetteifern die unterschiedlichsten Höfe um die fortschrittlichsten Erfindungen und cleversten Köpfe. Die Kunst der Mechanik, der Alchemie und des Magnetismus haben Hochkonjunktur. Wissenschaft und Mystik vermengen sich in dieser Phase des Aufbruchs und der Aufklärung.
Wolfgang von Kempelen möchte die damalige Kaiserin Maria Theresia mit der ersten denkenden Maschine, einem Schachautomaten beeindrucken. Er erhofft sich so, eine wichtige Gönnerin am Habsburgischen Hof zu gewinnen, welche ihm genügend Zeit und finanzielle Mittel für sein eigentliche Forschungsanliegen, die Arbeit an einem Sprachautomaten, ermöglichen kann.
Peter Löhr RomanRitter von Kempelen bekommt für dieses Vorhaben nur eine geringe Zeitspanne zur Verfügung gestellt. Innerhalb eines halben Jahres soll er seine vorlaut geäußerten Fähigkeiten unter Beweis stellen. So ersinnt er einen fast schon brillanten Plan den gesamten Adel und auch die höfischen Mechaniker hinters Licht zu führen. Gemeinsam mit seinem Gehilfen, dem Juden Jakob kreiert er ein wundervolles Blendwerk der Mechanik. Ein Schachtisch mit einer Holzpuppe, die dem Aussehen eines alten wie mürrischen Osmanen nachempfunden ist. Der Schachtürke, in dessen Inneren eine Mechanik verborgen ist, welche hauptsächlich den Zweck erfüllt, besonders laute wie geschäftige Geräusche zu erzeugen, um beim Publikum den Eindruck von Komplexität zu vermitteln und ganz nebenbei jene Laute zu überdecken, die ein in dieser Maschine verborgener menschlicher Spieler beim bezwingen seiner Gegner so von sich geben könnte.
Für das Gehirn seiner Maschine begibt sich Wolfgang von Kempelen auf die Suche durch halb Europa auf den Spuren eines genialen Vagabunden. Ein Zwerg mit überragendem Talent für das Spiel der Könige. Tibor, so der Name des Schachspielers, ist ein streng gläubiger Christ. Auch wenn dies nicht unbedingt eine Erwartung ist, welche den Menschen auf Anhieb überfällt, als Kempelen den Zwerg endlich volltrunken nach einer Schlägerei aus einem venezianischen Kerker freikauft.
Der Schachautomat wird ein voller Erfolg. Die Täuschung rühmt sich sogar schnell größerer Beliebtheit als es dem Schöpfertrio um sie herum anfangs lieb ist. Doch als sich alle Beteiligten schon mit dem Ruhm abgefunden und arrangiert haben, stirbt eine Aristokratin nach einer Vorstellung dieser denkenden Maschine unter mysteriösen Umständen. Gefährliche Gerüchte werden laut und kursieren um den Apparat und ihren Erfinder. Nicht nur die Bevölkerungsschichten, welche der Mystik näher stehen, verteufeln die Apparatur. Auch die Neider am Hofe sehen endlich die Gelegenheit Kempelen und dem Misstrauen erregenden Schachtürken vor der Kaiserin in endgültige Ungnade fallen zu lassen.

Gewalt, Sex & Aberglaube – Ein lebendiger Einblick ins 18. Jahrhundert

Der Roman lässt sich zunächst relativ träge an. Auf den ersten hundert Seiten sind es einzig einige spannende Höhepunkte und der einfühlende Erzählstil, welcher Hoffnung macht, nicht lediglich Beisitzer in einem Geschichtsreferat zu sein und mich so doch zum Weiterlesen animierte. Sobald jedoch endlich ein näheres Verhältnis zwischen Lesendem und den Protagonisten aufgebaut ist, werden die einzelnen Handlungsstränge wunderschön zu einem gänzlich faszinierenden Bild verwoben. So entwickelt sich Löhrs “Schachautomat” bald zu einer überaus mitreißenden Erzählung über eine fast schon kriminalistische Begebenheit, welche die historischen Rahmenbedingungen auf erstaunliche Weise zum Leben erweckt. Der Roman zieht sich durch die unterschiedlichsten Schichten. Der Autor lässt die vielfältigen Vergnügen & Intrigen im dekadenten Adel im gleichen Maße auferstehen, wie das arbeitsame, gottesfürchtige und ebenfalls an einfachen Vergnügen hängende Volk. Besonders spannend empfand ich die Einblicke in die jüdische Kultur und Lebensweise in den deutschen Städten und Fürstentümern des 18. Jahrhunderts. Auch einige Einblicke in die Verquickungen zwischen Mystik und Wollust als Zeitvertreib der gehobenen Schichten sind überaus gelungen als auch atmosphärisch geschildert. Die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Hauptpersonen insbesondere von dem etwas unkonventionellen Gehilfen Jakob zum christlichen Tibor verleihen dem Ausflug in die Vergangenheit einen erheiternden Anstrich. Jakob begegnet dem zwergwüchsigen Tibor auf einer menschlichen Ebene der Normalität, welche dem vom Schiksal gebeutelten Zwerg bisher so nicht vergönnt zu sein schien. Der Einblick in die Gefühlswelt des Zwerges, welche durch den dreisten Jakob völlig neue Dimensionen erreicht, ist wunderbar vielschichtig beschrieben. Von Wut & Trauer über die körperliche Ausgrenzung, der schuldhafte Zwiespalt zwischen Lust & Keuschheit, sowie Annäherung & Abgrenzung zwischen zwei eigentlich gar nicht so gegensätzlichen Religionen.

Kleine Anekdote zum Abschluss

Die noch im heutigen Sprachgebrauch befindlichen Redewendungen etwas sei “getürkt” oder auch “einen Türken bauen” gehen wohl auf Wolfgang Kempelens optische Ausarbeitung seines mechanischen Taschenspielertricks zurück.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*