Rezension: Urlaub mit deinen Eltern halte ich für keine gute Idee

Lesen nach AlphabetDas U ist ein unheilvoller Buchstabe: “Untersuchungshaft”, “Unterhaltszahlungen”, “Um die Ecke bringen”, “Uhrzeiten” (besonders frühe), “Unterlassungsklage” und “Urlaub mit deinen Eltern” – diese zugegebener Maßen überaus selektive Wahrnehmung des einundzwanzigsten Buchstabens unseres Alphabets bestätigt jegliche Ressentiments gegen den sicher unbeliebtesten Vokal der deutschen Sprache. Doch wir sind ja mutig. Eiskalt stellen wir uns unseren Ängsten, lassen uns zwar nicht unbedingt auf eine Reise mit der Quasi-Schwiegermutter ein, aber besuchen sie für den Anfang schon mal (rein hypothetisch zumindest).

Der Verlag Blanvalet stellte mir jedenfalls das Werk mit solch unheilvollem Titel zu. Ich schnupperte dran, es roch nach Beziehungsratgeber. Hätte mir beim Untertitel “222 Dinge, die Liebespaare sich mal sagen sollten” durchaus vorher auffallen können. Ist es auch. Ich komme an solch Literatur manchmal einfach nicht vorbei. Ist eine kleine Macke von mir. Nicht, dass ich irgendetwas verschlimmbessern wollte oder dazu gar die Hilfe eines Buches bräuchte (ich besitze allein schon genügend Zerstörungspotenzial). Doch ich pflege meine kleine Marotte, wenn es darum geht in solcherlei Ratgebern nach herkömmlichen Geschlechtermodellen zu stöbern und hoffe gleichzeitig jedes Mal auf die Überwindung jener Dualität oder womöglich gar der Aufbrechung des Zwei-Geschlechter-Modells und der vorherrschenden Heteronormativität (nicht nur) in trivialen Ratgebern. Vielleicht bin ich aber gar kein naiver Optimist. Vielleicht rege ich mich auch einfach nur gerne auf.
Hierzu schon mal: Ich sehe tatsächlich dahingehende Bemühungen und zumindest zeitgemäß gleichberechtigte* Ansätze, aber die Beziehung an sich wird weiterhin in herkömmlichen Mann-Frau Strukturen gedacht. Jetzt könnte die Kritiker_innen-Kritiker_innen meinen, das sei ja auch unerheblich, denn Beziehung ist ja Beziehung, egal ob homo, hetero, polyamorös, transsex oder transgender irgendwie treten doch überall die gleichen Probleme auf. Möglich. Diskutabel. Aber ich mag mich manchmal einfach nicht mit diesen Unsichtbarkeiten zufrieden geben. Doch kommen wir mal nicht gleich zur Kritik vielleicht erstmal zum generellen Inhalt:

Urlaub mit deinen Eltern halte ich für keine gute Idee

Marc + Jolyne Schürmann Rezension

…ist genau eins von 222 Dingen auf 192 Seiten, über die Paare vor oder nach, trotz oder gerade wegen Schmetterlingen im Bauch einmal beratschlagen sollten.

Die 222 Gesprächthemen welche es nötig haben einmal auf den Beziehungstisch gepackt zu werden, lassen sich mit den 15 Kapiteln des Buches in ebenso viele grobe Themenkreise einteilen. Die Titel der Kapitel sind wirklich ganz amüsant gewählt (Das dicke ist der Titel – ich erlaubte mir dünne Anmerkungen oder Erläuterungen):

Freizeitstress (Hobbies, gemeinsame oder getrennt verbrachte Zeit)
Andere Männer, andere Frauen (Fremdflirten oder gar gehen)
Im Büro
In Feierlaune (Wer fährt und wer schämt sich mehr für Trunkenheitseskapaden?)
Der Wirtschaftsteil  (Das liebe Geld)
Bin ich schön?
Die Quadratur des Freundeskreises (Allianzen, Verrat – ich war überrascht)
Vier Wände und alles dazwischen (Haushalt)
Alte Liebe rostet nicht? (Besondere andere Männer und Frauen im Leben der Partner_innen)
Sehr witzig! (Unterschiedlicher und gleicher Humor – tolles Thema, eine der Exklusivitäten dieses Buches)
Du kannst mich mal…
Schwiegermuttermilch (Die pucklige Verwandschaft – Altlasten bitte bei der Familienaufstellung entsorgen)
Das Kreuz mit der Politik (Ein wirklich herausragendes Kapitel, wie ich es vergleichsweise noch nirgends las)
Kinderkram (Fortpflanzung mit Folgen)
Und nun zum Sex (Fortpflanzung mit anderen Folgen oder gar ohne Reproduktionshintergründe)

Jedes Kapitel erläutert mit einem kurzen Einleitungstext, meist anhand von Anekdoten aus dem Freundeskreis des Paares, ihrer eigenen Beziehung oder auch mittels tierischen Gleichnissen (Fabeln), welch explosives Gemisch Unausgesprochenes in sich bergen kann und somit das urplötzliche wie gänzliche Aussterben jeglicher Schmetterlinge bis hin zur unausweichlich scheinenden Trennung zu verursachen vermag.
Im Anschluss an diese mal netten, mal weniger netten, manchmal wirklich guten, manchmal aber auch für meinen Geschmack zu poetisierten Geschichten folgt der Kern des Buches:
Die “Ich liebe dich, aber…”-Seiten.
Hier gibt es dann die eigentlichen Gesprächsanfänge, mit denen es dann entweder mit der harmonischen Beziehung klappen soll oder wenigstens schnell festzustellen ist, dass eben in dieser Konstellation gar nichts zZukunftsträchtiges liegt. Manche Ratschläge empfand ich dabei, eher als Selbstverständlichkeiten (eigentlich sogar erschreckend viele). Das Portfolio, was Marc & Jolyne Schürmann dabei an Klärungsbedarf streifen, eignet sich jedoch meines Erachtens nach nicht nur für die Phase “Frisch verliebt & abchecken wie es weitergeht”, sondern sowohl für weitaus fortgeschrittenere Beziehungen, als auch als Grundbedingungen für erste Berührungen, Küsse oder einfach nur Bettgeschichten (politische Einstellung zum Beispiel, also wer hat schon Bock sich von einem verkappten Nazi oder gar FDP-Heinzi** auch nur anfassen zu lassen :P ).

Fazit

Da ich das beim letzten Mal schon vertüdelt habe, vorweg: 3 von 5 Sternen, liebes “Blogg dein Buch”-Team!

Auf der Haben-Seite

…steht eindeutig das Kapitel zur Politik. Das Autoren-Ehepaar hält hier indirekt ein Plädoyer für Offenheit über diese Thematik innerhalb von Beziehungen. Ja, es geht wunderbar romantisch sogar davon aus, dass nicht einmal ein One-Night-Stand möglich sei, zwischen Menschen deren Ansichten sich auf diesem Gebiet diametral entgegenstehen. Politische Ansichten, Lebenseinstellungen, Meinungen und Interessen all das ist Grundlage unseres Seins, unserer Geschichte unseres Charakters und schmerzt daher besonders, sollte es in Frage gestellt, belächelt oder gar angegriffen werden. Sehe ich für mich persönlich ähnlich, also zumindest, dass es sich mit einigen ähnlichen Prämissen am besten streiten diskuttieren lässt. Dennoch sind selbst bis zu mir, auf meiner rosaroten Optimismus-Wolke bereits gegenteilige Realitäten vorgedrungen. Eine Freundin, die erst nach einigen Tagen Affäre feststellte, dass die Bettbekanntschaft eine übelriechende merkwürdig braungefärbte Gesinnung aufwies und danach tagelang unter der Dusche verschwand. Ehen, welche vor allem in älteren Jahrgängen noch immer geschlossen sind, obwohl ( Achtung ganz traditionell: ) Er eine unsägliche Meinung zu Politik hat, welche bei geselligen Zusammentreffen bierselig wie laut kundgetan wird, während Sie verschämt und dennoch unpolitisch, entschuldigend lächelnd den Kopf schüttelt. Alles bekannt. Funktioniert “bestens”. Stirbt womöglich gerade aus. Ist vermutlich auch nicht das Funktionieren, von dem die Schürmanns ausgehen, aber schoss mir eben durch den Kopf.

Auf der Soll-Seite

…stehen die Bügelfalten, welche beim Ausmerzen der Geschlechter-Dualität doch noch zu sichtbar waren sowie auch die als selbstverständlich genommene Definition von Beziehungen als Mann-Frau-Kiste.
So wird ein angenommenes Gehaltsgefälle im Wirtschaftsteil des Buches, gnädiger Weise zwar auch umgedreht, nachdem wie selbstverständlich zunächst dem Mann das höhere Gehalt unterstellt wird. Gänzlich andere Konstellationen, finden wie gesagt keinerlei Berücksichtigung. Auch existieren auf vielen “Ich liebe dich, aber…”-Seiten extra markierte Kästchen mit Dingen die entweder Sie (Weiblichkeitssymbol markiert die Aussage) Ihm sagen sollte oder eben umgekehrt (Männlichkeitssymbol markiert die Aussage). Im Anschluss an das Kapitel “Bin ich schön?” findet sich gar nur ein (Trommelwirbel: ganz unerwartet) Weiblichkeitssymbol. So etwas stößt mir leider doch etwas sauer auf. Natürlich muss sich niemand alle 222 Dinge annehmen, dazu sind sie auch gar nicht gedacht, so stehen manche getätigte Aussagen anderen auf derselben Seite auch zu sehr entgegen. Und sicherlich erheben die 222 Dinge keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Doch die mit dieser Symbolik versehenen Kästen empfand ich, oftmals als verstörend. Ich konnte schlichtweg nicht deuten, was mir die entsprechenden Zeichen zu verstehen geben sollten. Waren diese Aussagen jeweils direkt Aussagen des jeweiligen Autors oder eben der Autorin? Waren jene hervorgehobenen Geschlechtsspezifika als generalisierend gemeint? Letzteres fände ich insofern wieder einmal niederschmetternd, da es mir als Leser_in erneut vor Augen führte, dass ich “aussortiert” werde. Ich fühlte mich bei vielen weiblich markierten Feldern schlichtweg nicht angesprochen, bei mehreren männlichen schon und ich mag es einfach nicht, wenn mir so von außen eine Rolle verpasst wird, mir meine Weiblichkeit abgesprochen und in der Summe eine Männlichkeit zugesprochen wird. Auch Zweifel an meiner Geschlechtsidentität kann ich zur Genüge selbst aufbauschen – mindestens ebensogut wie Beziehungen verschlimmbessern.

Summe:

Nettes Leseerlebnis, zumindest um Sphären besser als “Standart-Werke” aus dem Hause Pease – wer es lesen mag, schaue hier.

 

*Also das was derzeit als solches zumindest in Partnerschaften gilt. Von der gesamtgesellschaftlichen Ebene möchte ich lieber gar nicht anfangen. Nachdem ich meinen Artikel zum derzeitigen #Aufschrei nun schon mehrere Male schrieb und wieder löschte.

*Was wäre eigentlich schlimmer? Ich war selbst ganz überrascht (Begriff drückt nicht annähernd Gefühlslage aus), habe ich doch erst am Sonntag in der unsäglich (Jauch, Karasek, Bruhns) besetzten Sexismus-Debatte bei Jauch ausgerechnet Frau Koch-Mehrin als herausragendste Wortführerin wahrgenommen. So viele dezidierte und durchdachte Statements aus diesem Munde! Ich ziehe wahrhaft vorurteilsfrei meinen nicht vorhandenen Hut!

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