Ausbruch, Widerstand und Aufstand

LesenSeit Freitag wirds ganz schwärmerisch ja nahezu verträumt bei den 52 Büchern. Zum Thema

Bücher, die Euch von der Hauptfigur haben träumen lassen! Motto: Ich will so sein, wie er/sie.

fielen mir spontan erstmal nur einige Kinderbücher ein. Pipi Langstrumpf und dergleichen. Mal im Ernst, wer liebäugelt in dem Alter nicht wenigstens einmal mit den Gaben der unkonventionellen Heldin aus Astrid Lindgrens Romanen. Ich las und hörte zwar von Menschen, welche behaupteten, mit der schwedischen Vorstadt Göre und Prinzessin aus Taka Tuka Land so gar nichts anfangen zu können, ja, sie gar über- bzw. verzogen gefunden zu haben, aber wie unkindlich ist das denn bitte? Nach meiner Erweckung aus meiner rosa Traumwelt muss ich ja glücklicherweise nicht mehr allen Großstadtlegenden Glauben schenken.

Doch was ist mit der “Erwachsenen-Literatur”? Ich ging in mich, hegte schon leise Befürchtungen, vielleicht das Träumen & Sehnen verlernt zu haben, schob den Gedanken weit weg und alles auf “zu realistische Lektüre”.

Da ereilte mich ein Gedanke, den ich zunächst eingehender überprüfen wollte. Ungeachtet meiner, mittlerweile auch schon auf kaum zu bewältigende Ausmaße angewachsenen Wunschliste, laß ich erneut

Nicolai Lilin: Sibirische Erziehung

Dieser autobiografische Roman eines sibirischen Urki hatte es mir schon beim ersten Lesen unheimlich angetan. Jedoch, wollte ich wirklich mit der Hauptperson tauschen? An vielen Stellen strotzt das Buch nur so vor Gewalt, Knast und Lebensgefahr innerhalb der Verbrechergesellschaft von Transnistrien.

nicolai lilin urkiErneutes Hineinhorchen ins eigene Innere führte allerdings zu einem eindeutigen Ergebnis: Ja, ich will! Das ist allerdings nicht auf die übersättigte Sicht eines dümmlichen wie weltfremden Großstädters, dem es einfach zu gut geht und der den Nervenkitzel sucht, zurückzuführen. Neben der Härte jener sibirischen Kriminellen-Gemeinschaft schildert Lilin auch & vor allem auch die schönen Seiten seiner Kindheit in einer von Einfachheit & Zusammenhalt geprägten Umgebung, wo jeder Mensch entweder den Gesetzlosen, der verschiedenen Banden angehört oder eben auf der anderen Seite steht, bei den Gesetzesvertretern in Gestalt der Köter (Bullen – keine Diskussion, aus gewohnheitsrechtlichen Gründen gilt dieser Terminus in meiner Heimat nicht als Beamtenbeleidigung, schlichtweg, weil er hier tatsächlich eine objektive Bezeichnung jener Berufsgruppe darstellt), Politiker und sonstiger personifizierter Unterdrücker und ausbeutender Kapitalisten. Aus den Augen heranwachsenden Kindes schildert Nicolai eine ursprüngliche Welt voller Gauner-Romantik. Fasziniert berichtet er von den verschiedenen Waffen, den kulturellen Mythen und Gesetzen dahinter, von den rituellen Tätowierungen der Älteren, deren geheime Symbolik und Bedeutung, welche er sich in seiner späteren Ausbildung zum “demütigen Kolschik”, einem anerkannten Urki-Tätowierer aneignet. Die Erzählung steckt voller spannender Details aus einer so unbekannten wie schönen Kultur. Dieser Blick fürs Nebensächliche haucht auch den großen Handlungssträngen soviel Leben ein, dass man beim Lesen vor lauter tiefer Tragik und belebender Freiheit manchmal platzen möchte, mal vor Wut, mal vor Freude.
Ein besonderes Augenmerk gilt auch dem Stolz der Gesetzlosen gegenüber Vertretern des offiziellen Gesetzes der Besatzer. Ein Ehrenkodex verbietet es beispielsweise den erwachsenen Kriminellen direkt mit den “Kötern” zu sprechen. So spielen sich in einer geschilderten Razzia skurrile Szenen ab, in denen Vermittler zur Kommunikation von Verbrecherseite eingesetzt werden, um den direkt vor ihnen stehenden Ordnungshütern Schimpfworte, Drohungen und allerhand mitzuteilen, welche jene ohnedies auch schon ohne diese Nachrichtsüberbringer vernommen haben.
Was genau das Faszinosum dieses Buches ausmacht ist so kaum in Worte zu fassen. Vielleicht trifft der Autor schlicht einen kleinen anarchischen Nerv. Vielleicht ist es dieses Gefühl von Freiheit und die fast utopisch wirkende Schilderung jener wirklichen Gemeinschaft, für die Geisteskranke als “Gottgewollte” fast schon einen Heiligenstand einnehmen, welchen es zu beschützen gilt, was während eines Verbots seitens sowjetischen Regierung zur Beherbergung solcher Menschen auch innerhalb der Familie, an großer Brisanz gewinnt.Ein Hauch von Robin Hood der Moderne schwingt in diesem aufsässigen Buch mit. Gemeinsam gegen die Starken zum Schutz der vermeintlich Schwachen.

Das Gefühl, welches Nicolai Lilin in seinen Berichten über das Leben in jener heutzutage leider auch schon untergegangenen und zerfallenen Kultur der sibirischen Kriminellen vermittelt, ist jedenfalls ein erhebendes, zerreissendes und lebendiges, welches in gewisser Weise definitiv ein Sehnen in mir weckt.

6 Responses to 'Ausbruch, Widerstand und Aufstand'

  1. Jaaa, einmal ein Gesetzloser sein – den Schwachen geben … und sich selbst auch reichlich geben, oder? Mafiaähnliche Strukturen hüllen, mit wenigen milden Gaben, geschickt einen Mantel des Schweigens über das eigene, im Grunde sehr unmoralische, tun. Aber von guten Verbrechern träumen – ach ja, warum denn nicht …

    • DillEmma says:

      Moral is ja so ne Sache. Da sollte nichts mit Gesetzen vermischt werden. Ich bin ja durchaus gläubig, was Konstrukte wie Gaunerehre angeht ….ich Sozialromantiker, ick… :P

  2. “Moral ist ja so ne Sache” – das sagst Du MIR? Ach, echt? ;-)
    Und ja, eine Sozialromantikerin, das bist Du … ICH frage mich allerdings manchmal, ob ich nicht eher Hedgefondsmanager werden sollte; auch wenn mich die Sozialromantik nicht sooo trifft, wie Dich. Aber dazu bin selbst ich zu moralisch, fürchte ich …

    • DillEmma says:

      Aber son HedgefondManager is doch wat janz andret als so’n grundsolider Ganove. Du kannst ja nich appel mit Birnen, Weizenpreise mit Immobilienblasen, also dit jeht doch nich :o (in janz üblen Launen hab aber selbst ick schon mal an solche Optionen jedacht, aber dit wär mir dann doch zu… also dann ja noch lieber Drogenbaron_in, Waffenschmugler_in oder Ufftragskiller_in und letztere zwee fallen nichma mehr unter ehrenhaft…)

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  1. [...] bin ich nach diesem Artikel um eine Erkenntnis reicher: In mir steckt offensichtlich mehr Bio-Graf, als ich es mir selbst eingestehen wollte. DillEmmaPosted in: Lies!Tagged: Geschlecht im Fokus, [...]

  2. [...] des Verbrechens reisen. Nicolai Lilins Roman “Sibirische Erziehung” weckte in mir reges Interesse an der “Gemeinschaft der Kriminellen” Sibiriens, den Urki. Meine derzeitige Lektüre “Die Larve” von Jo Nesbø, vermutlich [...]

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