Nicht Ich

Lesen nach Alphabet Aller guten Dinge sind drei. Daher ist der dritte Beitrag in der ABC-Challenge einem ganz besonderen Werk gewidmet, an das ich mich endlich heranwagen konnte. Aufgrund des NaNo-Events wollte ich mich von fremden Einflüssen anderer Romanen fernhalten – da kam mir jenes aufregend geschriebene Fachbuch ganz recht. Es stand schon lange an einem besonderen Platz im Regal und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Die Autorin sowie der Großteil des von ihr fabrizierten Wissensberg liegen mir besonders am Herzen. Bei diesem speziellen Werk handelt sich um eine 2009 neuaufgelegte Annäherung an ein höchst unwissenschaftliches Phänomen, eine treibende Urkraft, welche gewaltige “Wirkungsmacht auf das abendländische Denken” ausübt: Die Hysterie.

Zur Autorin Christina von Braun

Christina von Braun

Fortführende Fakten zur faszinierenden Frau von Braun - beim Klick aufs Bild

Christina von Braun ist eine der Persönlichkeiten, welche mich im Laufe meines Lebens bisher mit Abstand am meisten beeindruckt haben. Eine Kulturwissenschaftlerin & Gender-Theoretikerin welche es in ihren Büchern, Vorlesungen und Filmen auf faszinierende Weise schafft, komplexe Themenkreise unterschiedlichster Art anschaulich zu zerlegen, um die unterschiedlichen Fäden zahlreicher roter Fäden letztendlich wieder zu neuen schlüssigen Gebilden zu verknoten. Theorien, welche das Gefühl vermitteln, die Welt mit neuen, klaren Augen zu betrachten. Dinge, die mir persönlich nur als schwer (be)greifbares Gefühl der Ungerechtigkeit oder eines Ungleichgewichts bewusst waren, fasst sie in einer scheinbaren Leichtigkeit in pointierte Worte. Angesichts dieser überirdisch scheinenden Gedankenleistung dieser, auf den ersten Blick unscheinbaren wie kleinen & zierlichen Frau, erscheint lediglich der Umstand tröstlich, dass selbst solch ein genialer Geist auch eine Schwachstelle zu haben scheint: Beamer oder die Technik als solches. So benötigten in ihren Vorlesungen generell alle elektronischen Vorführmedien erst eine gewisse Anlaufphase inklusive bastelnder Gehilf_innen, was aber sicher lediglich atemloser Ehrfurcht seitens der Elektronik gegenüber der Autorin & Filmschaffenden geschuldet ist.

Nicht Ich – Logik, Lüge, Libido

Christina von BraunWissenschaft kann unheimlich trocken sein. Christina von Brauns Werke hingegen strotzen nur so vor Energie und Ideen, die sich an einem weiten Horizont zu bunten Schleiertänzen versammeln, sich dort ihrer Kleider entledigen und ein fröhliches Klamottentauschen veranstalten.

In “Nicht Ich” versucht sich die begnadete Analytikerin einem Phänomen zu nähern, was sich von seiner Natur aus der Logik und Wissenschaft entzieht. Die Hysterie ist scheinbar das komplette Gegenteil der Mittel, die sie zu sezieren versuchen. Unzählige Betrachtungsversuche hat es bereits gegeben. aus der Philosophischen Richtung, der Kunst, der Religion, der Medizin und insbesondere ihrem relativ neuen Spezialgebiet Psychologie. Von Braun versucht sich zunächst in einem geschichtlichen Abriss jener Deutungsversuche und findet dabei ein unheimlich wandelbares Wesen. Ein Wesen, was ein wechselseitiges Spiel mit den Wissenschaften und der Logik treibt. Die Hysterie verändert sich mit den ihr zugeschriebenen Deutungsansätzen, äfft sie spielerisch nach, verhöhnt sie fast schon in seiner Überziehung. Die Hysterie erscheint als misslungener Deutungsversuch gesamtgeselschaftlicher Ordnungen, als Till-Eulenspiegel von Normen, Werten und insbesondere auch Geschlechterverhältnissen im Wandel der Zeiten.
Trotzdem dieses Phänomen, jene Geisteskrankheit oder wie auch immer das Ungreifbare bezeichnet werden mag, hauptsächlich weiblich konnotiert ist, die Patient_innen überwiegend Frauen sind, infizierte Männer weibisch schwächliche Merkmale an den Tag legen, skizziert Christina von Braun eher nebenbei die Geschichte eines Frauenbildes. Eher zufällig nähert sie sich dem Geschlechterverhältnis, welches immanent in den Deutungsansätzen von Aristoteles über Freud und all jenen, welche Charakteristika und Behandlungsmethoden erforschten, mitschwingt.

Trotzdem sich das Werk ursprünglich nur diesem unfassbaren Gegenstand widmet, wird den Lesenden die Weltanschauung von Generationen näher gebracht. Abgründe und Facetten von herausragenden Persönlichkeiten ihrer Zeit treten ans Tageslicht. Und wie immer nach der Lektüre, dem visuellen oder auch auditiven Genuss von Frau Brauns Wissensreichtum fühlt sich der Empfangende ihrer Botschaften ein ganzes Stück bereichert, verwirrt, sprachlos und fasziniert von dieser wahnsinnigen Darbietung, dem neuen Blick auf die Welt und die unendlich vielen kleinen Universen darin.

 

 

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*