Wenn der Vater mit dem Sohne

Projekt 52 BücherNachdem ich in meiner energiegeladenen Aufholjagd gestern gleich mal den zweiten Beitrag zu einem der wenigen Themen, die ich bereits abgehakt hatte, veröffentlichte, habe ich den Artikel mal schön nach hinten datiert, damit das auch ja keiner merkt. Gut eigentlich stimmt hier tatsächlich irgendwas mit dem Datum nicht, keine Ahnung woran das schon wieder liegt, doch beruhigend zu wissen, dass nicht nur bei mir gerade der Wurm drin ist. Hier also das doppelt abgesicherte Thema der Bücherwoche 19 – garantiert “unique”, wie manche so “schön” sagen:

Wenn der Vater mit dem Sohne…

…und die Mutter gegen die Tochter, die dann wiederum zur vermeintlichen Großmutter, welche ohne Großpapa…
Erweitere ich das Motto in dieser wirklich logischen Richtung, werfe anschließend den so schön sortierten Keimling beiseite und widme mich einzig und allein seinem Sproß, so kommt dabei folgendes Buch heraus:

Jessica Soffer “Morgen vielleicht”

…ist eines der großartigsten Werke, die ich in diesem Jahr lesen durfte. Das Buch ist so dermaßen einfühlsam geschrieben, dass es beim Auf-die-Magengegend-Drücken immer noch hell und weich wirkt. Wie ein überdimensionaler Wattebauch, der sich auf die Lesenden niederschwingt und ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Nun aber von der vorweggenommenen Wirkung zu eigentlichen Inhalt: Alles dreht sich um Lorca. Zumindest das Buch, denn in Lorcas Leben scheint sich nichts um sie zu drehen, sondern vielmehr sie sich um ihre Mutter. Lorcas Mutter hingegen dreht sich hauptsächlich um sich selbst und kulinarische Genüsse. Da müssen auch Lorca und das Buch selbst mitziehen – es wimmelt nur so von kulinarischen Metaphern, Anspielungen und Speisesymbolik. Dieser Stil riecht und schmeckt aus allen Poren und ist streckenweise appetitanregender als das beste Kochbuch. Lorcas Mutter ist Sterneköchin und Leiterin eines gehobenen Restaurants. Lorcas Vater wurde vor einiger Zeit einfach aus beider Leben verbannt, weil er nicht in den Lebensplan der Mutter passen wollte. Beziehungsweise weil er zu schwach war, seinen Standpunkt, nicht in ihren Plan passen zu wollen, tatsächlich auszuleben. Zu weich. Lorca blickt zu dieser resoluten Frau auf, schluckt ihre eigenen Bedürfnisse, wie die Tränen für den Vater hinunter und versucht es ihrer Mutter in jedem Sinne recht zu machen, indem sie kocht. Nicht einfach nur Kochen – meisterliches kulinarisches Experimentieren vielmehr. Lorcas Ventil ist sie selbst. Schon als kleines Baby, ballte sie wohl ihre Fäuste dermaßen zusammen, dass sie sich mit den Nägeln die Hände aufstach. Dieses Verhalten ist geblieben, hat sich ausgeprägt und verselbstständigt. Lorca verletzt sich regelmäßig selbst. Nie ist sie ohne frische Wunden. Eines Tages wird Lorca in der Schule beim Schneiden erwischt und daraufhin von dieser verwiesen. Ihre Mutter will sie in ein Internat geben. Irgendwohin wo jemand besser auf sie aufpassen kann und will, als sie selbst. Lorca will allerdings nicht. Nicht etwa, weil sie irgendwen aus ihrer Schule vermissen würde, dazu ist sie zu sehr Einzelgänger. Doch es wäre keiner mehr da, der sich um ihre Mutter kümmern kann – schließlich sieht sie das als ihre Aufgabe an. Sie besänftigt sie mit dem perfekten Essen – je nach Gemütslage. Meisterliche Kochkünste sind ihre Verbindung zur Mutter und der einzige Weg, um einen Hauch Anerkennung von diesem unnahbaren Wesen zu erfahren. Doch um die Trennung abzuwenden, muss es schon ein besonderes Gericht sein. Schließlich ist die Situation verfahren. Lorca belauscht zufällig ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante in welchem der mysteriöse Name eines nie gehörten Gerichts fällt. Ein Gericht, mit dem ihre Mutter eine besondere Erinnerung verknüpft. Ein echtes Seelengericht also: Masgouf. So begibt sich Lorca auf die Suche nach diesem mysteriösen Masgouf und findet Victoria, eine alte Frau mit nagender Vergangenheit, deren Mann gerade gestorben ist. Die Irrungen und Wirrungen, persönlichen Entwicklungen und psychischen Umstürze, welche die keimende, wachsende und bald blühende Freundschaft zwischen dem Mädchen und der alten Frau fortan ausmachen, sind schlichtweg mitreißend. Über allem liegt der Schatten von Familiengeschichten, Abhängigkeiten und Sehnsüchten. Die Geschichte hätte also wahnwitziges Potenzial ins Schnulzige abzurutschen, tänzelt aber gekonnt, authentisch und mitreißend um diesen Abgrund herum und hinterlässt neben jeder Menge Kohldampf auch einen erlesenen Geschmack von Liebe und Freundschaft.

7 Responses to 'Wenn der Vater mit dem Sohne'

  1. Ralph says:

    Mmmh, ohne von dem Thema wirklich eine Ahnung zu haben frage ich mich, ob Mädchen in derartigen Problemfällen (eher) dazu neigen, sich selbst zu verletzen, als Jungen, die ja (eher) dann andere verletzen?

    Ansonsten scheint es ein Buch von einer Frau zu sein, die über das Schicksal von anderen Frauen, jung und alt, eine Geschichte erzählt – ein Frauenbuch also? Jedenfalls hast Du es lecker beschrieben ;-)

    • DillEmma says:

      Statistisch gesehen ist Autoagression und SVV (Selbstverletzendes Verhalten) tatsächlich weiter bei “Frauen” verbreitet. Betrachte ich mir die “Männer”, von denen ich weiß, dass sie ebenfalls an dieser “Störung” leiden, würde ich davon ausgehen, dass die Auslebung der Agressionen an der eigenen Person eben einer eingepflanzten Empathie gegenüber der Umwelt geschuldet ist – hier will einfach nicht die Grenze überschritten werden, anderen weh zu tun (selbst wenn sie es als Urheber womöglich verdient hätten). Zudem ist ein gewalttätiges Verhalten von “Frauen” gesellschaftlich stärker geächtet, als (unverständlicherweise) das von “Männern”, wo es teilweise (mindestens sportlich) immer noch zu manchen Männlichkeitsbildern gehört. Was ich viel spannender finde: Statitisch gesehen nimmt die Gewalt durch Frauen zu – nimmt die Autoaggression dann dort automatisch ab? Gehen die verprügelten Kerle sich dann ritzen? Oder sind nicht einfach beide Arten der Agression, egal wo sie nun ausgelebt wird, einfach ein Sympthom für ein emotionales Ungleichgewicht, Verwirrung oder gar Krankheit? Mir sind an so manchem großmäuligem Ghettobössinnenarm nämlich auch schon die verräterischen Narbenbilder aufgefallen – das muss also nicht zwingend getrennt auftreten.

      “Frauenbuch” klingt irgendwie abwertend – oder zumindest einschränkend …ich kann nicht beurteilen, ob es nun “nur” die Belange dieser einen Bevölkerungsgruppe thematisiert. “Freundschaft” und “Völlerei” halte ich ja glatt für geschlechtsübergreifende Prinzipien :P

  2. Ralph says:

    Nun bin ich endlich im Bilde, was SSV, also Sommer-Schluss-Verkauf, wirklich meint ;-)

    Die verschiedenen Arten von Aggression wären auch mal einen Artikel wert, würde ich meinen. Denn nicht jede Art der Aggression ist zwingend ein Fehlverhalten oder resultiert aus einem Defizit.

    Und bei der Völlerei stimme ich Dir komplett zu – aber wahre Freundschaft gibt es doch nur unter Männern :-P

    • DillEmma says:

      Siehste verwechsel ick immer wieder – SVV und SSV …liegt daran, dass womöglich beides mit Schmerzen, Selbstgeißelung zu tun hat und den Beteiligten etwas pathologisches zugeschrieben wird.

      Defizit oder eben Überangebot …aber im Aktions-Reaktions-Schema fielen mir jetzt nicht vielmehr Erklärungen ein. Ist vielleicht auch wieder Definitionsfrage, was nun als Mangel oder krankhaft gilt…

      Nein, DillEmma! Nicht auf derartige Plattitüden-Provokationen eingehen! Don’t feed the Dunkelschlumpf!

  3. Ralph says:

    Provokatieren? Icke? Niemalsnicht ;-)

  4. Fellmonsterchen says:

    Das erklärt alles, ich war gestern schon irritiert, hatte den anderen, zurückdatierten, Artikel eh nur entdeckt, weil bei mir im Blog ein Pingback auftauchte, denn im Reader hatte ich ihn nicht. Es ist aber völlig okay, zu einem Thema auch zwei oder dreihundert Beiträge zu schreiben. Alles erlaubt.
    Das Buch hört sich lesenswert an, ist mir aber glaube ich momentan zu schwermütiger Stoff…

    • DillEmma says:

      Dreihundert Beiträge zu einem Thema wären ja Anna Pfirsich kein Problem (wat kost die Welt? :P ) – wenn mensch aber noch 22 Wochen im Rückstand ist und dat Ende so dermaßen nahen sieht, dann sollte der eigene Überschwang manchmal ein wenig kürzer treten.

      Es klingt womöglich schwermütiger als es ist – selbst wenn es einiges an Identifizierungspotenzial birgt, hat es auch etwas aufbauend leichtfüßiges. In gewisser Hinsicht sogar stärkend für fragile Zeiten ;-)

      Aber ich will nich zu irgendwas überreden (sowieso nicht möglich :P ) – ich hoffe einfach mal, dein Seelenzustand hebt sich bald wieder über die Düsterkeit und Gräue der Jahreszeit (lass dich von deinen Wauzis knuddeln ;-) )

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