Sieben auf einen Streich

Lesen nach AlphabetWir bewegen uns heute auf den Pfaden eines legendären Schneiders*.

Entgegen allen guten Vorsätzen, demnächst keinem neuen Buch Obdach in meinen vier Wänden zu gewähren, habe ich mich mal eben bei dem Projekt Blog dein Buch beworben. Hier findet zusammen, was zusammen gehört: Verlage & Blogger_innen. Wer gern liest und rezensiert, kann sich hier also anmelden und für Titel bewerben, welche den innigen Wunsch nach Lesen und Rezensieren wecken. Denkt der jeweilige Verlag dann: “Och wird schon schief gehen” so erhält der-die-das Blogger_in das Wunschbuch, welches es nun in einer gemächlichen Frist von 30 Tagen zu verschlingen, durchdenken und wiederzukäuen** gilt.
Ich entschied mich für das Werk von Ansgar Oberholz “Für hier oder zum Mitnehmen?” aus dem Ullstein Verlag

Böse Überraschung?

Die Entscheidung für jenen Titel traf ich anhand nur weniger Informationen. Ich las lediglich “Berliner Cafékultur”, “Rosenthaler Platz” und schon war es um mich geschehen. Als das Werk dann bei mir eintraf und ich mich dem Klappentext widmete, überrannte mich zunächst eine Welle bornierter Vorurteile, welche als Stromstöße durch meinen Körper peitschten und in Form von Schweißperlen auf meiner Stirn wieder zu Tage traten.
In besagtem Klappentext hieß es:
Berlin, Rosenthaler Platz:

Unsanierte Altbauten, der Geruch von Kohleöfen, die brüllende Vierspurigkeit der Torstraße. Inmitten dieses Ost-Charmes tritt ein junger Mann auf den Plan: Er will die Gastronomie ganz neu denken und ein Café eröffnen, das die Welt noch nicht gesehen hat. Und obwohl ihm anfangs Gäste und Mitarbeiter auf der Nase herumtanzen: Aus Aschingers Bierquelle, wo Alfred Döblin und Georg Grosz einst Stammgäste waren, wird das Zentralcafé der Digitalen Bohème”

Berliner GentrifizierungsproblematikNa Großartig“, dachte ich bei mir “Digitale Bohème, meine absoluten Lieblingsmenschen“. Wie konnte ich nur derart unaufmerksam ans Werk gehen und mir derart zielstrebig für meine erste Rezension in einem neuen Projekt gleich ein Werk raussuchen, welches schon durch Autor und Protagonisten zugleich zum Scheitern an positiven Worten verurteilt zu sein schien?
Widerwillig begann ich also mit der Lektüre und etwa zehn Seiten später, also spätestens beim Auftritt des hauseigenen Handwerkers Klamotte, einem Berliner Urgestein, hatte mich mein personifiziertes Feindbild, jener gentrifizierende Wessi, der Oberholz bereits mit dicken Tauen und gekonnten Knoten auf meinem Lesesessel gefesselt und folterte meine Ressentiments kitzelnder Weise mit Federn und einer Ziege, welche Salz von den Füßen antiker Delinquenten leckt.

Für hier oder zum Mitnehmen?

Angar Oberholz - St Oberholz BuchDie Geschichte von Ansgar Oberholz ist die Geschichte der Eröffnung des Cafés St. Oberholz. Trotz aller beschriebenen Startschwierigkeiten steht jenes Etablissement auch immer noch am Rosenthaler Platz, sieht original aus, wie im Buch beschrieben und ist durchaus gut besucht (ich habe nachgeschaut – und Überraschung, sooo furchtbar Digital wirkte die anwesende Bohème dann auch wieder nicht).
Oberholz flüchtet aus seiner Werbeagentur und möchte sich mit der Eröffnung seinen eigenen, eigentlich erst für das 50. Lebensjahr geplanten Traum verwirklichen. Ein Café, das zwar irgendwie nobel ist, dabei jedoch auf die gängigen Konventionen pfeift. Eigentlich passt die Idee ganz gut in die Berliner Philosophie. Die Startphase der Umsetzung finde ich persönlich sogar noch viel gelungener: Das Personal, allen voran die “Schauspielerin” Milena führt ein munteres Eigenleben und funktioniert gelinde gesagt nicht ganz so, wie der frisch gebackene Café-Inhaber, der sich zunächst noch mit seiner Chefrolle anfreunden muss, es sich vorgestellt hat. Da werden Gäste nach den eigenen Vorstellungen aussortiert oder zwecks privaten Differenzen, wie Liebeskummer oder Geistererscheinungen schlichtweg ignoriert. Das Menschliche steht bei der Belegschaft zunächst weit über dem Geschäftlichen. Kuriose Personen tauchen auf und bereichern plötzlich die Stammbelegschaft. Stammkunden, welche kurz vor dem Rausschmiss standen, werden unvermutet zum unverzichtbaren Inventar für die überaus kritischen Bediensteten. Im Oberholz geht es chaotisch familiär zu, überaus sympathisch, wenn eben auch nicht wirklich gewinnbringend.

Fazit: Zum Einpacken & Mitlesen

dienst am gastDas Buch war für mich tatsächlich eine der größten Überraschungen des Jahres 2012 und ich hätte vor dem Lesen niemals gedacht, dass ich hemmungslos und ehrlich auf den Literarischen Lieferdienst von Für hier oder zum Mitnehmen verweisen könnte oder gar will. Nachdem ich in der Bahn angesprochen wurde, was das für ein Buch sei, welches ich da so unheimlich fasziniert verschlinge, komme ich nicht umhin volle fünf Sterne zu vergeben – wahrhaft deliziös!
Zwar ist das Werk weitgehend autobiografisch angelegt, dennoch sind manche Begebenheiten einfach derart absurd, dass sie schon fast wieder ein wohliges Heimatgefühl wecken oder dermaßen überspitzt dargestellt, dass es einfach genauso gewesen sein muss oder eben ganz anders.
Der Schreibstil des Gastronoms ist jedenfalls wahrhaft virtuos – ein einfacher Wechsel von der Werbebranche in die Schriftstellerei, also ohne Umwege über die Gastronomie wäre also durchaus auch angemessen gewesen (ein kleiner Seitenhieb, den ich mir einfach aus Prinzip nicht klemmen wollte, sei an dieser Stelle vergönnt, zuviel Schattenspringerei am Anfang des Jahres überfordert mich schlicht und es soll ja noch etwas Generosität für die kommenden Monate über bleiben). Allerdings wären ohne diesen Umweg der Leserschaft so wunderbare Charaktere vorenthalten worden, wie die energische Milena, das umwerfende Medium Aurinia, der promiskuitive Magnus und die liebenswerten Berliner Urgesteine (neben Klamotte, hat hier auch noch ein rüstiges Zwillingspaar aus dem benachbarten Nagelstudio einige herzerfrischend komische Gastauftritte). In Bezug auf “die Berliner” bekommt der Herr Oberholz dennoch einen kleinen Sympathieabzug, für den Rausschmiss von den großartigen Straßenzeitungsverkäufern Fred & dem General. Das dürfte allerdings verschmerzbar sein. Das emotionale Hadern zum Umgang mit jenen Gestalten sowie auch sein Gefühlswirrwarr gegenüber Milena, macht den Autor selbst wenigstens ein kleines Stückchen greifbarer für die Lesenden. Denn bei aller literarischen Malerei, die ihm bei den zahlreichen Nebencharakteren so glanzvoll gelingt, bleibt der Erzähler, Autor und die eigene Hauptfigur selbst immer etwas fade und im Hintergrund, trotz oder gerade wegen aller berechnenden Erwägungen gegenüber seiner Umwelt. Doch das ist vielleicht sogar Absicht.

 

 

*Sieben Fliegen:

  1. Eine Rezension für zwei Projekte gleichzeitig: Die ABC-Challenge und das “Blog dein Buch”-Projekt
  2. Grenzen überwinden: Sich nicht mit eigenen Vorsätzen, wie Bücher-Embargo boykottieren
  3. Die eigenen Vorurteile hinter sich lassen und derartige Perlen beim Blick über den Tellerrand erblicken
  4. Den ersten Beitrag im neuen Jahr endlich hinaus zu posaunen
  5. Nachträglich allen liebgewonnenen Lesern ein wunderbares Weihnachtsfest und ein noch grandioseres 2013 zu wünschen.
  6. Fadenscheinig wirkende Gründe zu präsentieren, wieso dieses eigentlich geplante Festtagsanliegen nicht umgesetzt werden konnte.
  7. dazuschummeln und die Gründe auflisten: Kurz vor Weihnachten kam es zu einer mittelschweren Familienkatastrophe, die mein spontanes Eingreifen erforderlich machte und mich weitab der Blogossphäre herumschwirren ließ. So begleitete ich zu Heilig Abend eine persönliche Prominenz durchs Tal der Tränen, verhalf ihr sogleich zu einem verspäteten Weihnachtswunder (Traumwohnung zur Traummiete innerhalb von fünf Tagen in einer der schönsten Ecken Berlins – ein Schicksalswink nach eiskalter Trennung zwei Tage vor dem “Fest der Liebe”). Im Anschluss brachte mein pompöses Ego den Auspuff vor Neid zum Platzen, welcher mich und eine handverlesene Silvestergesellschaft zur angestrebten Jahreswechsel-Dörflichkeit bringen sollte. Es folgten plötzliche Krankenhausaufenthalte die mich zwangen den Jahreswechsel ohne Schwippschwagers Stiefzwilling bei einem Picknick aufm Friedhofsacker in T-Shirt (was für ein Wetter!) aber dennoch bester Gesellschaft zu verbringen. Alles in allem aufregende und dennoch wunderschöne zwei Wochen, die hinter mir liegen, mir jedoch gerade einen genussvollen Schauer über den Rücken jagen, endlich wieder in heimischen Gefilden zu sein und mich endlich einigen literarischen Weihnachtsköstlichkeiten zu widmen (Meine erste Reise in die Scheibenwelt).

** “Blogger, die literarischen Rindviehcher” aus den Chroniken der symbolverliebten BseBse-Fliege

12 Responses to 'Sieben auf einen Streich'

  1. Fellmonsterchen says:

    Ich wünsche Dir ein tolles 2013!
    Mit dieser schönen Rezension hast Du Dich ja schon gut für die neue Saison “52 Bücher” warmgeschrieben. Ich gehe davon aus, dass Du wieder dabei sein wirst? (Jetzt bloß keine falsche Antwort geben. ;-) )

    • DillEmma says:

      Bin grad noch am abarbeiten (nee “Arbeit” is eigentlich der falsche Begriff, “abfeiern” trifft es wohl eher) deiner in meiner Netzabstinenz angesammelten Werke (mit FDP-Bildchen auf Zigarettenpackungen wäre ich morgen schon rauchfrei – ich hoffe also du kümmerst dich in deiner Weltherrschaft selbst um die Gesundheitsangelegenheiten :p).
      Und natürlich bin ich dabei, werde mich umgehend hochoffiziell anmelden und freu mich enorm, das ist ja viel viel viel früher als erwartet – ich nehme an, dass entweder der Finger wahnwitzig gut heilt oder das Schreiben mittlerweile einfach auch gut von der (einen) Hand geht :mrgreen:

      • Fellmonsterchen says:

        Von Rahm zu lernen, heißt, mit eingeschränkter Fingeranzahl klarzukommen. :-) Der Finger selbst lernt wohl eher von Schnecken. Man merkt, dass es mein Finger ist. ;-)

        • DillEmma says:

          Ahhh dit mit dem Mittelfinger musste ich nun erstmal gockeln. Da ist der arme Mann ja gebärdensprachlich enorm eingeschränkt. So’n wichtiger Finger und dann inna Politik dennoch soweit voran gekommen, ja das will dann wohl schon was heißen. (in den Google-Suggestions taucht dann gleich an fünfter Stelle auf “Rahm Emanuel retarded” – also dass er da noch keinen auf Frau Wulff gemacht hat, sagt ja auch ne Menge über Gelassenheit und gesundes Selbstbewusstsein aus :P )

          • Fellmonsterchen says:

            Das “Emanuel retarded” bezieht sich vermutlich eher auf eine unglückliche Äußerung, die er mal getätigt hatte. Er schießt hin und wieder übers Ziel hinaus, und zu der Zeit war ich auch noch nicht seine persönliche Beraterin… Zu der Fingerarie sagte er selbst mal: “Of all the fingers to lose! I could not express myself for months. I had to learn to talk with my left hand.”
            Das mit dem gesunden Selbstbewusstsein lässt sich nicht leugnen. :-)

            • DillEmma says:

              Japp, ok das las ich dann auch, is aber auch verflixt mit der Sprache, da kann sich eins-fix-drei verheddert werden und beim straucheln sieht mensch dann, dass irgendwo gelandet wurde, wo mensch partout ganz sicher nicht hinwollte ….jut, dat der gute Rahm da ja nun eine so eloquente Beraterin hat (auch wenn es mir manchmal dünkt, die Besprechungen gingen vielleicht ganz minimal am politischen Tagesgeschehen vorbei :P )

  2. uffkläresich says:

    dit heeßt Nickie und nich t-shirt, und ma abjesehn davon das ick dir scheinbar ooch im neuen jahr immer wieder vabessern muss, hatte ick selbijet ooch an an besagtem tach und dit obwohl ick in brandenburch war, und dank grebe weeß ooch der der nie nich da war dasset da richtich leer und kalt is, also ein hoch uff mir zu meene tapfakeit, jawoll

    • DillEmma says:

      Dit heißt Nicki und nich Nickie, dit T-Shirt.
      Ick war in Schleswig-Holstein und da jibbet noch nichma n Lied drüber, zumindest keins vom Grebe also jakeens (weil nämlich alle da imma erfriern vorm drüber schreiben) – also jubel ick nu mal eben uns beede hoch

      • uffkläresich says:

        wenn man aus unachtsamkeit n e zuville dran hängt, dann heeßt dit wohl ma doch so :o
        da war ick nie jewesen, dit jibbt dit also wirklich, is keen jerücht oder n ammenmärchen wie monster im schrank oder unterm bett damit die kinder inner kiste bleiben und nich unuffjefordert aussem kinderzimmer toben?
        is ja unfassbar,gloob ick ja fast jarnich, nachher erzählste mir noch wat dasset den weihnachtsmann und ne zahnfee jibbt und der hsv n toller fußballverein is :o

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  1. [...] Nämlich unweit des Café St. Oberholz, dessen literarische Auswüchse ebenfalls erst kürzlich hier vorgestellt wurden (Bald schreibe ich nur noch Artikel zu Büchern, welche auf den Erfahrungen diverser [...]

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