Nachdem ich gestern Abend zu faul war, mein Fahrrad bis in den fünften Stock zu schleppen, erwartete mich heute morgen das Nikolausgeschenk eines zu Scherzen aufgelegten Petrus’. Da ich metaphorisch betrachtet zu der Gruppe Autofahrer gehöre, die angesichts des unerwarteten Wintereinbruchs im Dezember noch mit ihren Sommerreifen durch die Gegend schlittern würden, so sie denn einen Führerschein hätten, fiel ich an der ersten Kreuzung völlig aus den Wolken, als sich meine Bremsen kein Stück bewegen wollten und ich im mörderischen Tempo auf den schleichenden, jedoch dicht gedrängten Berufsverkehr zuraste. Mit aller Macht versuchte ich die vereist scheinenden Geschwindigkeitsdrossler zu lösen und hatte plötzlich ein Déjà-Vu von meiner ersten Fernseherfahrung: Werner Beinhart knattert mit einem Schrottmotorrad bergab auf seine Baustelle zu, als sich seine Bremse in Wohlgefallen auflöst und die Einzelteile in Zeitlupe an ihm vorbeiflattern.
Eine Slow-Motion Perspektive konnte ich, ob der sich mir nähernden Gefahr leider nicht ausmachen, aber Parallelen waren dennoch vorhanden. Die Kabel, welche beim betätigen der Bremse dafür sorgen sollten, dass sich die Bremsklötze sicher um die Räder des Fahrrads legen und es somit zum Stillstand bringen platzten laut knallend ab. Die Hebel waren nun komplett heruntergedrückt am Lenkrad, die Geschwindigkeit jedoch keineswegs gedrosselt und zusätzlich hatte ich auch noch die Kabelage im verschneiten Sichtfeld.
Lange Rede ohne Sinn: Ich überlebte und nahm anschließend die U-Bahn.
Hier kann man ja wenigstens vorm Arbeitsbeginn noch ein wenig dösen, so dachte ich. Offenbar hatte mein Schlafbedürfnis in der längeren “Öffentliche Verkehrmittel”-Abstinenz ganz und gar verdrängt, dass diese motorisierten modernen Massentransportmittel nicht nur lauter Unwillige tagein tagaus zum Ort des Grauens, im Volksmund auch schlicht wie verniedlichend “Arbeitsplatz” genannt, transportieren. Der öffentliche Nahverkehr ist in Berlin, wie sicher auch in anderen kulturell belebten Großstädten eine Art fahrendes Varieté. Etwa fünf Stationen und drei Kleinkünstler später (eine Opernsängerin, welche nicht annähernd so modern aussah, wie ihre Stimme es meinen geschlossenen Augen vorgaukelte – eine rustikale Band mit Saxophon, Gitarrist und laut schmetternd sammelndem Sängerknaben, sowie ein lauthals intonierender Rapper, bei dem etwa die Hälfte der U-Bahn Besatzung, welche an & für sich einiges gewohnt und somit verwöhntes Publikum ist, ob der aggressiv vorgetragenen Performance zunächst wohl eher dachte nun gleich ausgeraubt zu werden, bei Identifizierung des leicht vom sonstigen Störfaktor abweichenden Schnorrverhaltens, aber sogleich wieder in ihre gewohnte “ich höre nichts, ich sehe nichts, ich gebe nichts”-Starre verfiel).
Auf der Hälfte der von mir zu absolvierenden Strecke also stieg ein fast bis zu den eigenen Knien gebückter, überaus heruntergekommener Mann ein. Seine Fingernägel, die unter dem viel zu großen Cord-Jacket wie blutige Krallen hervorlugten, hatten in etwa denselben erdigen Farbton wie seine Zähne. Er entschuldigte sich für die erneute Störung, direkt im Anschluss an die ihm wohl zumindest in Sachen Lautstärke bekannte Band. Anschließend stellte er sich in die Mitte und meinte, er würde nun drei Gedichte vortragen.
Dieser mickrige Mann, gebeugt wie er war, hielt seinen Vortrag mehr oder weniger in Richtung des eigenen Bauches. Nahezu jedes seiner Worte, welches sich tapfer durch die verschmutzten Maschen seines sicherlich nur mager vor der Kälte schützendes Pullovers zu den Fahrgästen gekämpft hatte, verreckte erschöpft von der erfolgreichen Schlacht im Krach der lärmenden U-Bahn. Er wirkte wie das personifizierte Elend, das fleischgewordene Scheitern. Daher überraschte und beeindruckte mich die Auswahl seiner mit krächzender Stimme vorgenuschelten Gedichte umso mehr. In Wortfetzen erkannte ich Heinz Erhardts “Der Einsame” und irgendetwas von Joachim Ringelnatz, was der Darbietende allerdings unter dem Titel “Die Made” ankündigte. Die einzig mir bekannte Made entsprang allerdings auch der Feder von Heinz Erhardt (Belehrungen eines besseren, werden wie immer gern entgegen genommen). Komplett in einer schmerzhaft quietschenden Kurve gingen allerdings Dichter Nummer Drei sowie auch der dazugehörige Titel unter. Ein Geheimnis, welches mich nun den ganzen Tag schon nicht loslässt. Ich wette ja auf Jandl oder Morgenstern – die beiden wurden zu jener faszinierenden Mischung aus tragischer Komik passen, welche nicht nur in Gedichten lag, sondern die gesamte Aura dieses alten Mannes durchströmte. So bin ich wohl gezwungen mir morgen freizunehmen und stundenlang U-Bahn zu fahren, um dieses poetische Mysterium zu lüften. Trotzdem sicher nicht nur an mir nahezu die komplette Rezitation akustisch vorbeilief und auch sein Stil in keiner Weise herausragend war, öffneten sich die gut verriegelten Herzen und Portemonnaies der Fahrgäste so zahlreich wie bei keinem seiner Vorgänger.
Es lag in der Luft, dass dies keine Gesten des Mitleids waren, gegenüber der äußerlich erbärmlichsten Figur, die bis dahin jenen U-Bahn-Wagon zu unterhalten versuchte. Ich konnte mich einfach nicht gegen den Eindruck wehren, dass es an dieser eigensinnigen unpassend passenden Auswahl seines Repertoires lag und der beeindruckenden Haltung zum ganzen Dasein, die er damit durch seine eher abschreckende Gestalt blitzen ließ.
Oha, gut, dass Dir nix passiert ist! Die Zeiten, dass ich bei jedem Wetter mit dem Fahrrad gefahren bin, sind bei mir seit einigen Jahren vorbei, aber früher konnte mich weder Glatteis noch Sturm stoppen…
Welchen Lebenslauf dieser Gedichte vortragende Mann wohl hinter sich hat?
Zum Thema “Made” fällt mir übrigens noch das Meisterwerk von Mythenmetz, “Die Finsterbergmade”, ein…
uh, Finsterbergmade ist klasse – zumal das auch irgendwie athmosphärisch perfekt zur U-Bahn an sich passt.
Das mit dem Lebenslauf würde mich bei diesem Herren auch ziemlich interessieren. Schiksale stecken ja überall dahinter und eigentlich stehe ich Reportagen darüber zwiegespalten gegenüber, zwecks der Dualität von Schaulust und tatsächlichem Interesse und Teilhabe, aber ich habe tatsächlich schon über eine Art Interview oder ähnliches nachgedacht…