Reiseführer ins Ungewisse

LesenProsit! Hoch die Tassen! Auf das Leben!

Geistige Getränke ließen unser Genie letzte Woche schon ordentlich vorglühen, um zum Schnapszahl-Event der 44. Woche im Projekt 52 Bücher warmgelaufen & fit zu sein. Im Endspurt wird noch einmal richtig durchgestartet. Auf, in eine immernoch ungewisse Zukunft! Jedenfalls, was die Weiterführung des Literaturprojekts betrifft.
Voller Elan widmen wir uns diese Woche also ganz & gar oder wenigstens im weitesten Sinne dem Motto Reiselust. Wohin, ist dabei egal. Nur schnell weg! So jedenfalls meine minimal unstrukturierte Herangehensweise an jene Thematik und den generellen Umgang mit dem Denotat des folgenden Titels:

Reiseführer

Sich vorab über Sitten, Sehenswürdigkeiten & Sonderbares zum Zielort zu informieren, ist an sich nichts Verwerfliches. Im Gegenteil. Diese löbliche Eigenschaft umsichtiger Planer kann sogar garantieren, den völlig unbedarft Reisenden immer einen Schritt auf dem Weg ins Unbekannte voraus zu sein. Programmierter Aktionismus als Gegenentwurf zu einem desorientierten Urlaubs-Schlendrian, welcher die Reisenden lediglich an Strand und Hotelbar vor sich hinvegitieren ließe. Doch das Zuschütten mit Informationen vorweg kann durchaus auch seine Tücken haben. Jene erholsame Grundessenz des Urlaubs läuft dabei Gefahr, vom Muskelkater zerfleischt auf der Wanderstrecke zu verenden. Reisen artet in Freizeitstress aus, wenn die Umsetzung des Ferien-Fahrplans zu einem generalstabsmäßigen “Muss” mutiert.

Manchmal empfiehlt es sich, für echte Entspannung und wahrhaft überraschende Entdeckungen einen gewissen “Mut zur Lücke” an den Tag zu legen. Gäbe es eine Messlatte für solcherlei Wagniss, so würden die zwei jugendlichen Helden im Roman des guten Wolfgang Herrndorf hier sicherlich unerreichbare Höchstwerte erzielen.

Wolfgang Herrndorf: “Tschick”

Maik Klingenberg & Andrej Tschichatschow, genannt “Tschick” machen sich gemeinsam in einem alten geklauten Lada auf den Weg in die Walachei. Dabei weiß keiner von beiden, wo selbige eigentlich so genau liegen sollte und selbst über die tatsächliche Existenz jenes mysteriösen Ortes sind sich die Jungen streckenweise wahrhaft uneinig. Weder Karte noch Navi zerreißen jene romantische Spannung einer Fahrt ins Blaue sowie den duftigen Wind der Freiheit, welcher bei jener Odyssee weht.

Maik ist ein Außenseiter aus gutem Hause. Zumindest nach außen hin scheint die Situation in seinem Elternhaus einen Hauch von heile Welt zu verstrahlen. Eigenes Haus mit Pool und Garten, die Mutter im Golfclub, geht offen mit ihren regelmäßigen Einweisungen in eine Entzugsklinik oder Beautyfarm, wie sie es nennt, um. Der Vater, eine Art gescheiterter Unternehmer, der bei Immobilienspekulationen eine gute Stange Geld in den Sand eines ertragslosen Baulands gesetzt hat, findet immerhin stets Trost bei seiner zu jungen Sekräterin. Alles in allem das vorbildliche Klischee einer vordergründig funktionierenden Spießbürgerlichkeit. Welche Auswirkungen jene Oberflächlichkeiten tatsächlich auf das Seelenleben des 14-jährigen Maiks haben, dessen wird er sich tatsächlich erst während seines spontanen Roadtrips mit dem merkwürdigen russischen Spätaussiedler “Tschick” gewahr. Tschick tauchte erst in diesem Schuljahr plötzlich in seiner Klasse auf, erscheint überwiegend sturzbetrunken zum Unterricht und umgibt sich gern mit der schützenden Aura, die Gerüchte über eine Zugehörigkeit zur Russenmafia so mit sich bringen.

Herrndorf TschickVordergründig verbindet die beiden Jungen zunächst nichts. Sie kommen offenbar aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten. Maik kann und möchte zunächst auch kein Stück mit dem plötzlich zudringlich werdenden “Russenjungen” zu tun haben. Einzig ihr gemeinsamer Außenseiter-Status verbindet. Beide sind scheinbar die einzigen Schüler des Jahrgangs, welche keine heiß ersehnten Einladungen auf die sagenumwobene Geburtstagsfeier der Schulschönheit Tatjana am Beginn der Großen Ferien erhalten. Für Maik bricht eine Welt zusammen. Von der Ferne vergöttert er Tatjana seit gefühlten Ewigkeiten. Über Wochen hat er sich auf diese Party vorbereitet und an einem beeindruckend rührseeligem Geschenk gearbeitet. Hier beginnt die aus Maiks Perspektive erzählte Geschichte einer skurrilen Reise voller irrwitziger Begegnungen, tragischen wie fatalen Zwischenfällen und dem zügellosen Geschmack der großen Freiheit. Der diffizile Balanceakt zwischen realistischer, nicht aufgesetzt wirkender Jugendsprache und ansprechender Lektüre gelingt Herrndorf in einem außergewöhnlich akrobatischen Akt zwischen sprachlich brillianter Eleganz und brüllender Komik mit, wie könnte es anders sein, “Berliner Schnauze”. Aus eigener Erfahrung kann festgehalten werden, die Hellersdorfer Vorstadttristesse wurde fachgerecht eingefangen, zerlegt und deliziös zubereitet. Entstanden ist ein Jugendbuch, das auch wahrhaft empfehlenswert für jene Generationen ist, welche diesen Lebensabschnitt längst mehr oder weniger erfolgreich hinter sich gelassen haben. Ja, selbst für jene, welche auf eine erhellende Kindheit im Berliner Vorstadtghetto Hellersdorf verzichten mussten. Auch ihr Entbehrungsreichen werdet sicher Gefallen wie Identifikationsmöglichkeiten und Oasen für Träumereien in jenem Werk entdecken.

Ein aufrichtig bewegendes wie mitreissendes Buch über solch elementare Banalitäten wie Freundschaft, Liebe & Freiheit. Ein Roman, der Lust macht, einfach mal wieder auf- & auszubrechen.

 

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